NEW YORK (dpa-AFX) - Forscher haben neue Studiendaten zum großen Hoffnungsträger der US-Firma Biogen
Für Biogen wäre ein Zulassungserfolg von Lecanemab essenziell. Denn nach dem Wirbel um das Alzheimer-Medikament Aduhelm steht auch die eigene Reputation auf dem Spiel: Die US-Medikamentenaufsicht FDA hatte Aduhelm im Sommer 2021 zugelassen, obwohl der Nutzen nicht klar belegt war. Krankenkassen hatten sich daraufhin quer gestellt, die sehr hohen Kosten zu übernehmen. Dies hatte auch den Aktienkurs schwer belastet.
Ende September nach Bekanntwerden der ersten Studienresultate zu Lecanemab war das Biogen-Papier dann allein binnen eines einzigen Handelstages um fast 40 Prozent nach oben geschnellt und hat sich seitdem noch moderat weiter erholt. Zum Handelsschluss an der Nasdaq am Dienstagabend notierte das Papier bei gut 291 Dollar, am Mittwoch stand es vorbörslich 3 Prozent im Plus. Im Juni des vergangenen Jahres kurz nach der Zulassung von Aduhelm hatte die Aktie allerdings noch fast 470 Dollar gekostet.
Der Antikörper Lecanemab könne Alzheimer nicht heilen oder aufhalten, aber den geistigen Abbau relevant verlangsamen, urteilte der deutsche Alzheimer-Forscher Frank Jessen vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der nicht an der Studie beteiligt war. Er spricht von einem "historischen Meilenstein in der Alzheimer-Forschung".
Die Sicherheit der Behandlung müsse in längeren Studien weiter untersucht werden, schrieben die Forscher. Sie berichteten von Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und Mikroblutungen im Gehirn. Diese traten in über einem Fünftel der Fälle auf - im Vergleich zu nur gut 10 Prozent in der Vergleichsgruppe, die mit einem Placebo behandelt wurde.
Todesfälle seien als Folge der Behandlung nicht aufgetreten, hieß es weiter. Vor wenigen Tagen erschien allerdings im Fachmagazin "Science" ein Beitrag über einen Todesfall im Zusammenhang mit der Therapie, insgesamt sei es der Zweite. Dies müsse man sehr genau beobachten, sagte Jessen. Er könne sich vorstellen, dass es bei einer Zulassung Beschränkungen für bestimmte Patientengruppen gebe, etwa für Menschen mit erhöhter Blutungsneigung.
Eisai hatte zuvor bereits offiziell erklärt, der Tod der Patienten könne nicht auf Lecanemab zurückgeführt werden. Den Studienangaben zufolge waren 0,7 Prozent der mit dem Mittel behandelten Menschen gestorben. Eine Unternehmenssprecherin sagte dem "Wall Street Journal" (WSJ, Mittwoch), die betroffenen Patienten hätten andere schwerwiegende medizinische Probleme gehabt.
Mediziner erklärten im "WSJ"-Bericht, die neuesten Daten seien wahrscheinlich gut genug, um eine Zulassung zu stützen. Gleichzeitig stellten die Experten infrage, ob die Wirksamkeit des Mittels hoch genug sei, um die potenziellen Schäden aufzuwiegen. "Noch weiß niemand, ob der Nutzen klinisch bedeutsam sein wird", sagte Samuel Gandy, Professor für Neurologie und Psychiatrie in New York, dem Blatt.
In den USA wird Lecanemab bereits in einem beschleunigten Zulassungsverfahren geprüft. Eine Entscheidung wird bis zum 6. Januar erwartet. Eisai will auf Grundlage der neuen Studiendaten eine vollständige Zulassung beantragen. Die Firma ist bei der Entwicklung von Lecanemab federführend. Auch in Europa und Japan ist ein Antrag auf Marktzulassung bis Ende März 2023 geplant.
Alzheimer ist die häufigste Form von Demenz, nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leben in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen haben Alzheimer. Es kommt dabei zu einem Absterben von Nervenzellen im Gehirn, was zu Vergesslichkeit, Verwirrtheit, Sprachstörungen oder Orientierungslosigkeit führt. Die Krankheit schreitet langsam fort, sodass der Alltag für die Betroffenen zunehmend schwerer zu bewältigen wird. Charakteristisch für die Erkrankung sind Ablagerungen von Eiweißen im Gehirn, Jahre bevor erste Symptome auftreten.
Lecanemab wird von Biogen zusammen mit Eisai entwickelt. Der Antikörper Lecanemab fängt im Gehirn der Patienten das Eiweiß Amyloid-beta (Abeta) ein, das sich dort in Form sogenannter Plaques ablagert. Diese Plaques sind ein maßgebliches Kennzeichen von Alzheimer und gelten als Mitursache der Erkrankung.
In die Studie wurden 1795 Menschen im Frühstadium von Alzheimer eingeschlossen. Eine Hälfte bekam in zweiwöchentlichem Abstand den Antikörper, die andere ein unwirksames Scheinmedikament. Die Studie wurde an 235 Zentren in Nordamerika, Europa und Asien durchgeführt.
Die Forscher prüften in regelmäßigen Abständen den Verlauf der Erkrankung und testeten etwa die Gedächtnisleistung, das Orientierungsvermögen und die Problemlösekompetenz der Patienten. Bei den Studienteilnehmern, die den Antikörper bekommen hatten, verlangsamte sich der Abbau der geistigen Fähigkeiten um durchschnittlich 27 Prozent: Sie schnitten also bei den Tests nach 18 Monaten besser ab als die Probanden der Kontrollgruppe. Allerdings war auch bei den mit Lecanemab behandelten Menschen die Krankheit vorangeschritten.
"Diese Effektstärke liegt im Rahmen dessen, was man in der Alzheimer-Forschung zuvor für ein ausreichend wirksames Medikament festgelegt hatte", sagte Jessen. Mit dieser Studie sei erstmals überzeugend gezeigt worden, dass sich mit einer Behandlung, die an einer der Ursachen der Erkrankung ansetzt, eine Verzögerung des klinischen Fortschreitens erreichen lasse.
"Die Ergebnisse stimmen vorsichtig optimistisch", sagte auch Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative. "Lecanemab greift in die Mechanismen der Alzheimer-Krankheit ein und reduziert nicht nur die schädlichen Amyloid-Ablagerungen, sondern verzögert auch den Krankheitsverlauf. Das ist das ausschlaggebende Kriterium für die Patientinnen und Patienten - und das hat bisher noch kein Wirkstoff geschafft." Die Verbesserung der Kognition sei allerdings nur sehr moderat. Es sei fraglich, wie stark dieser Effekt für Betroffene spürbar sei und tatsächlich im Alltag einen Unterschied mache. Menschen mit fortgeschrittenem Krankheitsverlauf würden zudem von der Antikörper-Behandlung nicht profitieren.
Thienpont betonte - auch mit Blick auf die beiden berichteten Todesfälle -, dass genau abgewogen werden müsse, ob Nutzen und Risiken in einem vertretbaren Verhältnis stehen. "Im Falle einer Zulassung des Medikaments wird eine engmaschige ärztliche Kontrolle bei der Behandlung nötig sein. Es muss außerdem genauer eingegrenzt werden, welche Patientinnen und Patienten für eine Behandlung infrage kommen."
Es sei zudem wichtig, auch andere Forschungsansätze zu verfolgen, die sich mit weiteren Merkmalen der Erkrankung beschäftigen, etwa Ablagerungen des Tau-Proteins oder entzündliche Prozesse, so Thienpont. "Denn wir werden die Alzheimer-Krankheit vermutlich nicht mit einem Wirkstoff heilen können, sondern es werden Kombinationstherapien gebraucht, die individuell an unterschiedlichen Krankheitsmechanismen ansetzen."/tav/ags/DP/lew/stk