BERLIN (dpa-AFX) - Die deutsche Pharmaindustrie erwartet nach glänzenden Geschäften mit Corona-Impfstoffen schwierigere Zeiten. Während die Sonderkonjunktur aus der Pandemie schwindet, spürt die Branche Kostendruck aus der Politik und die teurere Energie. 2023 werde der Umsatz um knapp 5 Prozent und die Produktion um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr fallen, heißt es in einer Prognose des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA), die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die Beschäftigung werde nach dem starken Stellenaufbau der vergangenen Jahre bei 118 000 Menschen stagnieren. Der VFA warnte vor ausländischer Konkurrenz und mahnte Reformen im Gesundheitssystem an.
"Chemische Vorprodukte haben sich in der Energiekrise um 30 bis 40 Prozent verteuert", sagte VFA-Chefvolkswirt Claus Michelsen der dpa. Zudem kühle sich das Geschäft mit Corona-Impfstoffen ab.
Der Coup des Mainzer Herstellers Biontech
Zudem sieht sich die Branche wegen Regulierung unter Druck. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Herstellerrabatte, die Unternehmen den gesetzlichen Krankenkassen gewähren müssen, für 2023 erhöht. Das soll die Ausgaben im Gesundheitssystem begrenzen. Die verschärften Rabatte kosteten die Branche mehr als 1,5 Milliarden Euro, berichtete der VFA, der 47 Arzneihersteller mit 94 000 Beschäftigten in Deutschland vertritt.
"2023 wird für die Pharmaindustrie ein Jahr der Herausforderungen", sagte VFA-Präsident Han Steutel. "Zum einen lasten die hohen Preise für Energie und Vorprodukte auf der Branche, zum anderen verschlechtern sich die Rahmenbedingungen durch die neue Gesetzgebung immens." Die höheren Kosten müsse die Branche wegen der weitgehenden Preisregulierung von Arzneien in der Regel selbst schultern. Das zum Jahreswechsel in Kraft getretene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz werde für weitere Belastungen sorgen und dem Standort schaden.
Auch bei einzelnen Unternehmen sind die Sorgen groß: Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim hat davor gewarnt, dass die Erhöhung des Herstellerrabatts und ein Einfrieren der Arzneipreise die Innovationskraft der Branche schmälere - mit Folgen für Patienten.
Der VFA mahnte, die Erfolge nach dem Biontech-Coup nicht zu verspielen. "Wegen der schlechteren Aussichten halten sich Pharmaunternehmen mit Investitionen in Forschung und Entwicklung zurück, die dann in den Folgejahren nicht mehr für die Produktion zur Verfügung stehen", sagte Chefvolkswirt Michelsen. Er erwartet, dass die Investitionen in der Branche in diesem Jahr um 2,3 Prozent sinken.
Während die Konkurrenz in den USA mit einer starken Forschung und einem großen Kapitalmarkt punkte, hole China bei der Zahl der Patente auf. Die Volksrepublik stehe hier weltweit auf Platz 5 - hinter Deutschland auf Rang 2 und den USA an der Spitze. "Schreibt man die Entwicklung der vergangenen Jahre fort, wird China in wenigen Jahren Deutschland überholen", sagte Michelsen. China sei schnell bei klinischen Arzneimittelstudien mit großen Patientengruppen. Deutschland sei hier 2021 auf Platz 6 zurückgefallen.
Nötig für die Branche seien langfristig stabile Rahmenbedingungen, forderte der Lobbyverband. Er forderte, die Herstellerrabatte nicht weiter zu verschärfen und die Ausgaben der gesetzlichen Kassen auf den Prüfstand zu stellen. "Im System gibt es viele versicherungsfremde Leistungen wie die Aufwendung für Bezieher des Arbeitslosengelds II und die Mitversicherung von Ehepartnern, welche eine Transferleistung sind", sagte Michelsen. Auch müsse man stärker auf die Leistungen von Arzneien schauen und Homöopathie hinterfragen.
Die Pharmabranche gehört nicht zu den ganz großen Industrien in Deutschland, erzielt aber eine hohe Wertschöpfung und steckt viel Geld in Forschung und Entwicklung. Zugleich gilt die Branche als wenig konjunkturanfällig. Während die Chemieproduktion 2022 wegen teurerer Energie um zehn Prozent sank, wuchs die Herstellung der Pharmabranche spürbar weiter.
In der Debatte über Lieferengpässe von Arzneien plädierte der VFA dafür, Lieferketten breiter aufzustellen. Eine Rückholung der Wirkstoffproduktion aus Asien, wie immer wieder gefordert, sieht der Verband skeptisch. "Es wäre sehr teuer, die Produktionsketten für 300 bis 400 Wirkstoffe in Europa wieder aufzubauen", sagte Michelsen. Es ergebe mehr Sinn, strategische Reserven etwa bei Wirkstoffen zu stärken, um Arzneiengpässe überbrücken zu können. Anders als bei Nachahmerarzneien, darunter Fiebersäfte, seien Lieferengpässe bei innovativen Medikamenten wie Krebstherapien sehr selten. Biopharmazeutika würden weiter in Europa produziert./als/DP/stk