DÜSSELDORF (dpa-AFX) - Der Spezialchemiekonzern Evonik
Frisches Kapital könnte vor allem die Ausgliederung der Dienstleistungen an den Standorten Marl, Antwerpen und Wesseling aus dem Konzernverbund einbringen. Dabei geht es um Logistik, Energieerzeugung, technischen Service, Werkstätten und Werkschutz. Evonik will drei eigenständige Betreibergesellschaften gründen, in die geschätzt bis zu 4000 Mitarbeiter wechseln würden.
In der zweiten Jahreshälfte 2025 soll dieser "Carve-out" abgeschlossen sein. Kullmann hält sich für die Zukunft der neuen Gesellschaften alle Optionen offen: Verkauf oder Beteiligungen von Investoren, Zusammenarbeit mit anderen Betreibern von Chemieparks oder Eigenregie. "Wir werden individuelle Lösungen finden."
Der Umbau der Verwaltung soll ebenfalls Freiräume schaffen. "Für Evonik ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem wir uns von der internen Bürokratie lösen", sagt Kullmann. Gut 8600 Organisationseinheiten hat der Konzern aktuell, acht Hierarchieebenen liegen zwischen Produktion und Vorstand, auf vier Mitarbeiter kommt eine Führungskraft. "Das ist zu komplex und zu teuer", sagt der Chef.
Evonik ist damit ein weiteres Großunternehmen, das sich von Komplexität gebremst fühlt. Bei der Leverkusener Bayer
In diese Richtung zielt auch das Projekt von Evonik. Kullmann greift dabei zu ungewöhnlichen Mitteln. Der Vorstandschef startet kein neues Effizienzprogramm mit Eingriffen in die bestehende Verwaltung, er lässt auf dem Papier das Modell einer komplett neuen Organisation entwerfen.
Die Essener haben dazu ein gutes Dutzend erfahrener Mitarbeiter in einem Projekt namens "Evonik Taylor Made" zusammengezogen. Sie sollen bis zum Frühjahr 2024 eine moderne Architektur der weltweiten Konzernverwaltung erarbeiten.
Auf Beratungsdienste externer Consultingunternehmen verzichtet der Konzern dabei bewusst. "Wenn wir selbst nicht wüssten, wo wir etwas verändern müssen, wäre das in meinen Augen eine strategische Kapitulation", sagt Kullmann. Binnen drei Jahren sollen die Pläne umgesetzt werden.
Wie viele Stellen betroffen sind und was der Umbau an Einsparungen bringt, kann Kullmann noch nicht beziffern. Vor betriebsbedingten Kündigungen sind die deutschen Evonik-Mitarbeiter bis 2032 geschützt. Gut zwei Drittel der weltweit 34 000 Beschäftigten entfallen auf Deutschland.
Für Kullmann ist aber klar: "Wir werden in Zukunft weniger Funktionen und Führungskräfte haben. Sie sollen keine Sachbearbeiter mit Sternchen auf der Schulterklappe sein, sondern unternehmerisch handeln." Dafür wolle man Freiräume und Verantwortungen vergrößern.
Hinter den Plänen steckt eine Erfahrung, die schon viele Großunternehmen gemacht haben: Die üblichen Sparprogramme in der Verwaltung brachten oft nicht den erhofften dauerhaften Erfolg - auch nicht bei Evonik. Kullmann spricht von einem "Doktern an den Symptomen". Seiner Ansicht nach schafft Bürokratie immer mehr neue Bürokratie.
Evonik ist mit einem Umsatz von zuletzt 18,5 Milliarden Euro hinter BASF
Der letzte große Schritt dieses Umbaus steht bevor: Das Geschäft mit Saugstoffen für Windeln soll noch dieses Jahr einen neuen Eigentümer finden, mehrere Finanzinvestoren sind interessiert. Für die restlichen Einheiten der Evonik-Sparte "Perfomance Materials" könnte der Verkaufsprozess noch etwas länger dauern.
Die interne Analyse bei Evonik ergab: Die Verwaltung ist diese Portfolioveränderung nicht mitgegangen und noch immer zu stark auf Deutschland konzentriert. Jetzt will Kullmann den Einheiten in den Regionen der Welt mehr Entscheidungsfreiheit geben.
"Dort werden die Märkte gemacht. Wir werden Funktionen dorthin verlagern, weil wir noch näher an den Kunden sein wollen", sagt er. "Das ist auch aus geopolitischen Gründen notwendig, wenn die protektionistischen Tendenzen zunehmen." Die Zentrale in Essen werde sich voll auf die strategische Steuerung konzentrieren.
Für den 54-Jährigen ist der Komplettumbau das große Projekt seiner verbleibenden Amtszeit als Evonik-Chef. 2021 hat der Aufsichtsrat Kullmanns Vertrag bis 2027 verlängert. Bis dahin sollen die Zukunftsgeschäfte des Konzerns einen zusätzlichen Umsatz von einer Milliarde Euro machen - vor allem durch organisches Wachstum, kündigt er an. Dazu gehören Zusätze (Additive), die die Performance von Kunststoffen und Chemikalien verbessern, Inhaltsstoffe für Kosmetik, Nahrung und Pharma sowie Biotech.
Für diese komplexe Produktion braucht Evonik spezielle Ingenieure, die auch künftig in der Konzerneinheit Technology verbleiben. Alle anderen Standortdienste sollen in die drei neuen Gesellschaften übergehen./he/ajx