- von Andreas Rinke und Giulia Segreti
Berlin/Rom (Reuters) - Das Aussetzen von Covid-19-Impfungen mit dem Impfstoff von AstraZeneca in weiten Teilen Europas sorgt zunehmend für Kritik.
Italiens Arzneimittelaufsicht Aifa stuft das Mittel als sicher ein. Das Verhältnis von Nutzen zu Risiko sei "weitgehend positiv", sagte Aifa-Direktor Nicola Magrini der Zeitung "La Repubblica". Frankreich erwartet, dass die Europäische Arzneimittelbehörde EMA das Vakzin des britisch-schwedischen Konzerns schon am Donnerstag wieder freigeben wird. Die Bundesregierung rechtfertigte ihre Entscheidung, die Impfungen auf Eis zu legen. Man habe nach der Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) nicht anders handeln können, hieß es in Regierungskreisen am Dienstag. Offen blieb, ob damit die Impfstrategie der Bundesregierung ins Wanken gerät.
Der für Mittwochabend geplante Impfgipfel von Bund und Ländern wurde wegen der Entscheidung abgesagt. Bei der Telefonkonferenz von Kanzlerin Angela Merkel mit den Regierungschefs der 16 Bundesländer sollte es eigentlich um die Impfstrategie und die Einbindung der Hausärzte gehen. Vor einem solchen Treffen solle die Entscheidung der EMA zu AstraZeneca abgewartet werden, teilte ein Regierungssprecher in Berlin mit. Die EMA plante nach Angaben der EU-Kommission schon am Dienstagnachmittag eine Pressekonferenz. Derzeit untersucht sie die Sicherheit des Impfstoffs.
Berichte über Blutgerinnsel als mögliche Folge einer Impfung mit dem Präparat hatten eine Diskussion über die Sicherheit entfacht. Die Niederlande, Irland, Dänemark, Norwegen und Island hatten bereits den Einsatz des Impfstoffs ausgesetzt, bevor Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Slowenien und Zypern am Montag folgten. Schweden und Lettland schlossen sich am Dienstag an.
Nach Angaben aus Regierungskreisen hatte die Bundesregierung schon aus juristischen Gründen keine Alternative zum vorläufigen Aussetzen der Impfungen. Denn nach der PEI-Entscheidung am Montag hätten ansonsten Körperverletzungs-Klagen gedroht, da es sich um eine staatliche Impfkampagne handele, hieß es in den Kreisen. Nachdem bereits fünf europäische Länder die Impfungen ausgesetzt hatten, registrierte das PEI am Montag insgesamt sieben Fälle einer speziellen Form von sehr seltenen Hirnvenenthrombosen unter mehr als 1,6 Millionen Impfungen. Der Anteil der Fälle sei höher als in der Allgemeinbevölkerung, "sodass hier nicht auszuschließen ist, dass wirklich die Ursache in der Impfung liegt", hatte PEI-Präsident Klaus Cichutek dem "ZDF heute journal" gesagt.
Nach der Meldung des PEI sei man verpflichtet gewesen, Ärzte und zu Impfende darüber aufzuklären und die EMA zu informieren, hieß es weiter. Zudem habe man sich mit anderen EU-Partnern abgestimmt und ihnen die Lage in Deutschland geschildert. Als eine mögliche EMA-Entscheidung wird in Regierungskreisen eine weitere Nutzung des Impfstoffes mit einer Warnung oder Einschränkung für Thrombose-gefährdete Patienten gesehen. PEI-Präsident Cichutek rechtfertigte die Empfehlung seines Instituts. "Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich darauf verlassen, dass die Impfstoffe, die wir zulassen, sicher und wirksam sind", sagte er in den ARD-Tagesthemen. "Ich glaube, wir haben hier eine besondere Verpflichtung."
"SCHNELLER WEITERMACHEN ALS ZUVOR"
Der Chef der italienischen Arzneimittelaufsicht Magrini sagte, die Entscheidung zur Aussetzung der Impfungen sei politisch motiviert gewesen. Die Aifa werde zwei bis drei Tage benötigen, um alle erforderlichen Daten zu sammeln. Sobald alle Zweifel ausgeräumt seien, "können wir schneller weitermachen als zuvor". Der französische Gesundheitsminister Olivier Veran sagte vor Journalisten, das Verhältnis von Nutzen und Risiken bei dem AstraZeneca Vakzin bleibe positiv. Er erwarte, dass die EMA entscheide, die Impfungen fortzusetzen.
Kritik an der Entscheidung kam auch von Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, der den vorläufigen Stopp der Impfungen in Zweifel zog und einen Image-Schaden für das Vakzin befürchtet. "Dass Menschen Thrombosen und Lungenembolien bekommen, muss nicht unbedingt etwas mit der Impfung zu tun haben", sagte Montgomery dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Der CSU-Gesundheitsexperte Stephan Pilsinger warnte vor einem Scheitern der Impfstrategie bei einem längerfristigen Ausfall des Impfstoffs. "Bei einer langfristigen Aussetzung der Impfungen von AstraZeneca ist das Wettrennen gegen die Dritte Welle nicht mehr zu gewinnen", sagte der CSU-Politiker der "Augsburger Allgemeinen" (Mittwochausgabe).
Dem Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts (RKI), Dirk Brockmann, zufolge befindet sich die Pandemie in Deutschland wieder in einem exponentiellem Wachstum. "Wir sind genau in der Flanke der dritten Welle. Da gibt es gar nichts mehr zu diskutieren", sagte er in der ARD. In diese Flanke herein sei gelockert worden und das habe dieses exponentielle Wachstum beschleunigt, das es bereits durch die hochansteckende britische Virusvariante B.1.1.7 gegeben habe.
Das RKI meldete am Dienstag 5480 Neuinfektionen. Das sind 1228 Fälle mehr als am Dienstag vor einer Woche. Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt im Vergleich zum Vortag leicht auf 83,7 von 83, vor einer Woche lag sie bei 67,5. Der Wert gibt an, wie viele Menschen je 100.000 Einwohner sich in den vergangenen sieben Tagen mit dem Coronavirus angesteckt haben.