Reuters

Krankenhaus-Einschlag in Gaza gefährdet Krisen-Diplomatie

18.10.2023
um 09:47 Uhr

- von Nidal al-Mughrabi und Andreas Rinke

Gaza/Kairo (Reuters) - Ein Raketeneinschlag in Gaza-Stadt mit möglicherweise hunderten Toten gefährdet die Bemühungen, einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern.

Bei dem Angriff auf ein Krankenhaus sollen nach palästinensischen Angaben Hunderte Menschen getötet worden sein. Während die radikal-islamische Hamas Israel dafür verantwortlich machte, wies die israelische Regierung dies umgehend zurück. Vielmehr habe ein fehlgeschlagener Raketenangriff der palästinensischen Extremisten-Gruppe Islamischer Dschihad die Klinik getroffen. Als erste Reaktion sagte Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas ein für Mittwoch geplantes Treffen mit US-Präsident Joe Biden ab. Jordanien sagte ein für Donnerstag geplantes Treffen mit beiden Politikern sowie dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi ab. Möglicherweise belastet der Vorfall auch die für Mittwoch geplanten Gespräche von Kanzler Olaf Scholz, der in der Nacht nach einem Besuch in Israel in Kairo eintraf.

UNKLARE VERANTWORTUNG

Der Leiter des Zivilschutzes in Gaza sprach im Sender Al Dschasira von mindestens 300 Menschen, die bei dem Beschuss der Klinik getötet worden seien. Nach Angaben Gesundheitsministeriums wurden mindestens 500 Personen getötet oder verletzt. Beide Behörden unterstehen der Hamas-geführten Regierung im Gazastreifen. Die Hamas erklärte, es seien vor allem Menschen getötet worden, die durch die vorherigen israelischen Bombardierungen obdachlos geworden seien. Auch Kranke, Frauen und Kinder seien unter den Toten. Hamas-Chef Ismail Hanijeh warf den USA vor, hinter der Tat zu stehen und Israel zu decken. Der Angriff sei ein neuer Wendepunkt in dem Konflikt.

Zahlreiche Länder wie der Iran, Ägypten, Jordanien, Katar und die Türkei sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verurteilten den Angriff. Der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau bezeichnete den Beschuss einer Klinik als "entsetzlich und absolut inakzeptabel". Das Auswärtige Amt schrieb auf seiner englischen Seite auf der Plattform X, zivile Ziele, insbesondere ein voll funktionsfähiges Krankenhaus mit Patienten und Gesundheitspersonal, dürften unter keinen Umständen angegriffen werden.

Gleichzeitig forderte der französische Präsident Emmanuel Macron die Wiederaufnahme der humanitären Versorgung der Palästinenser im Gazastreifen. Dies hatte auch Kanzler Scholz vor dem Angriff in Tel Aviv gefordert. Wie aufgeladen die Situation in Israel und der Region derzeit ist, zeigt die Tatsache, dass Scholz während seines Aufenthalts dreimal wegen Luftalarms Schutzräume aufsuchen musste. Am Dienstagabend verzögerte sich der Abflug aus Tel Aviv, weil Scholz und seine Delegation das Regierungsflugzeug wegen eines Alarms verlassen mussten. Die israelische Luftabwehr fing zwei Raketen in der Nähe des Flughafens ab.

DEBATTE ÜBER HUMANITÄRE HILFE

Der Beschuss des Krankenhauses gilt auch deshalb als politisch sehr heikel, weil sich etliche Regierungen seit Tagen bemühen, dass die Auseinandersetzungen in der Region nicht eskalieren. Jordaniens König Abdullah hatte bei einem Besuch in Berlin gewarnt, die Region stehe "am Abgrund". Kanzler Scholz sagte in Tel Aviv mit Blick auf den Iran und die libanesische Hisbollah: "Ausdrücklich warne ich: Kein Akteur sollte es für eine gute Idee halten, von außen in diesen Konflikt einzugreifen." Scholz betonte aber erneut, dass Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht habe, auf den Überfall der Hamas auf Israel zu reagieren.

Bei dem Überfall hatte die Hamas am 7. Oktober mehr als 1200 Israelis getötet. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte daraufhin Vergeltung angekündigt. Allerdings gibt es seit Tagen Warnungen, dass Israel bei den Luftangriffen und einer möglichen Bodenoffensive im Gazastreifen Zivilisten verschonen solle. Diese Botschaft war auch von US-Präsident Biden bei dessen für Mittwoch geplanten Israel-Besuch erwartet worden.

Palästinenser-Präsident Abbas sagte, für die Tat trügen auch die Länder Verantwortung, die Israel unterstützten. Die Extremisten der libanesischen Hisbollah-Miliz kündigten für Mittwoch einen "Tag des beispiellosen Zorns" gegen Israel und den Besuch von Biden an. Die USA trügen die direkte und vollständige Verantwortung "für dieses Massaker", hieß es in der Erklärung.

Israel hatte unmittelbar nach Bekanntwerden des Beschusses erklärt, man prüfe den Vorfall. Später teilte ein Sprecher der Streitkräfte mit, die israelische Analyse deute darauf hin, dass Mitglieder des Islamischen Dschihad in Gaza Raketen abgefeuert hätten, die in unmittelbarer Nähe der Klinik vorbeiflogen, als diese getroffen wurde. Die Organisation bestreitet dies.

Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate haben nach Angaben des stellvertretenden russischen UN-Botschafters Dmitri Poljanski für Mittwoch eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats beantragt.

Bei den Gesprächen von Scholz mit dem ägyptischen Präsidenten geht es zum einen um die Frage, ob der Grenzübergang Rafah zum Gazastreifen für humanitäre Lieferungen geöffnet werden kann. Zum anderen setzt sich der Kanzler für die Freilassung der fast 200 Geiseln ein, die die Hamas in den Gazastreifen verschleppt hat.

(Unter Mitarbeit von Moaz Abd-Alaziz und Ali Sawafta. Geschrieben von Philipp Krach. Redigiert von Katharina Loesche. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)