Berlin (Reuters) - Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021 hat nach den Worten von Ifo-Präsident Clemens Fuest weitreichende Folgen für die Finanzpolitik in Deutschland.
"Für die Bundeshaushalte der kommenden Jahre ergeben sich erhebliche Einschränkungen, was Ausgaben für die staatliche Unterstützung der Dekarbonisierung angeht", sagte Fuest am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. Eine Option bestehe darin, nun doch noch für 2023 oder 2024 erneut eine Notlage festzustellen, die Vorgaben der Schuldenbremse für normale Zeiten nicht einzuhalten und die Neuverschuldung zu erhöhen. "Ob das mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, ist nach diesem Urteil allerdings fraglich", sagte Fuest.
Man müsste die Notlage als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine darstellen, dieser Angriff liege nun aber schon mehr als anderthalb Jahre zurück, erläuterte der Top-Ökonom. "Alternativ bleibt der Bundesregierung nur die Option, Ausgaben zu kürzen und umzuschichten oder die Steuern zu erhöhen." Zumindest die FDP hat Steuererhöhungen in dieser Legislaturperiode allerdings ausgeschlossen. "Jenseits der aktuellen Folgen für den Bundeshaushalt signalisiert das Urteil, dass finanzpolitische Manöver zur Umgehung der Schuldenbremse vom Bundesverfassungsgericht kritisch beobachtet und stark eingeschränkt werden", fügte Fuest hinzu.
DIW-Präsident Marcel Fratzscher sieht in dem Urteil einen Anstoß zur Reform der Schuldenbremse. "Die Versuche der Bundesregierungen in den vergangenen zwölf Jahren, die Schuldenbremse zu umgehen, haben immer absurdere Züge angenommen", sagte Fratzscher. "Die Schuldenbremse ist nicht mehr zeitgemäß, weil sie der Politik notwendigen Spielraum nimmt, um Krisen zu bekämpfen und Zukunftsinvestitionen zu tätigen." Es sei heute dringender denn je, dass die Bundesregierung eine Investitionsoffensive für Zukunftsinvestitionen starte ? in Bildung, Klimaschutz, Innovation und Infrastruktur.
"ALL DAS STEHT JETZT ZUR DISPOSITION"
Ökonom Jens Südekum rechnet mit schweren Zeiten für die Ampel-Koalition. "Das stellt die Bundesregierung vor das größte wirtschaftspolitische Problem dieser Legislaturperiode", sagte der Professor für internationale Volkswirtschaftslehre des Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zu dem Urteil. Die 60 Milliarden Euro seien für die kommenden Jahre vollständig verplant, für Fördermaßnahmen im Bereich der Gebäudesanierung und Heizungstausch, für Senkungen der Strompreise, für Subventionen. "All das steht jetzt zur Disposition." Kurzfristig könne die Bundesregierung auf andere Rücklagen zurückgreifen, die noch im Klima- und Transformationsfonds (KTF) liegen. "Aber das ist nur eine Notoperation und wird nicht lange reichen."
"Spätestens im kommenden Jahr ist die Rücklage dann leer und es stellt sich die Grundsatzfrage, wie die Bundesregierung ihre geplante Klimapolitik dann finanzieren will", sagte Südekum. Das sei eine Mammutaufgabe, eine einfache Lösung dafür nicht in Sicht. Es dürfe jetzt aber nicht zu massiven Kürzungen im Bereich der Klimapolitik kommen. "Das wäre ein Schlag ins Gesicht der kommenden Generationen und des gesamten Wirtschaftsstandorts, der sich ja auf den Weg in Richtung Transformation gemacht und dabei auch auf den KTF vertraut hat."
KEIN GRUND FÜR SCHADENFREUDE
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) kann dem Ganzen auch eine positive Seite abgewinnen. "Die Ampelkoalition steht haushaltspolitisch jetzt vor einem selbst verschuldeten Scherbenhaufen", sagte ZEW-Finanzexperte Friedrich Heinemann und fügte hinzu: "Das Timing des Urteils mitten in den entscheidenden Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2024 ist gut." Zu einem Zeitpunkt, wo die Koalition sogar neue Subventionen an die Gastronomie verteilen wollte, müsse sie nun ganz neu nachdenken, wie sie ihre ambitionierte Klimapolitik eigentlich noch finanzieren könne. Grund für Schadenfreude der Union, die die Klage angestrengt hatte, sieht der Experte nicht. "Die Union hat auf der Landesebene in NRW und Berlin genauso wie die SPD-Regierung in Saarbrücken Sondervermögen auf den Weg gebracht, die nach dem heutigen Urteil ebenfalls eindeutig gegen das Grundgesetz verstoßen, nur dass sich hier noch kein Kläger gefunden hat", sagte Heinemann. "Es wird Zeit, dass die deutsche Finanzpolitik auf allen Ebenen wieder die Verfassung respektiert."
Das Bundesverfassungsgericht hat den umstrittenen Nachtragshaushalt der Ampel-Regierung von Ende 2021 mit seinem Urteil gekippt. Danach durften 60 Milliarden Euro an nicht benötigten Krediten zur Bewältigung der Corona-Krise nicht umgewidmet und in den Klimafonds verschoben werden. Das Vorgehen der Ampel sei insbesondere wegen eines Verstoßes gegen die Schuldenbremse nichtig.
(Bericht von Rene Wagner; redigiert von Sabine Wollrab - Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)