- von Holger Hansen
Berlin (Reuters) - Nach eindrücklichen Warnungen vor einem Bruch der Koalition hat sich ein Bundesparteitag in der Asyl- und Migrationspolitik hinter die Grünen-Führung gestellt.
Die Delegierten in Karlsruhe lehnten am späten Samstagabend nach einer zweieinhalbstündigen kontroversen Debatte einen Antrag der Grünen Jugend ab, für ihre Minister in Bund und Ländern rote Linien zu ziehen. Vizekanzler Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock und Co-Parteichefin Ricarda Lang setzten ihr ganzes politisches Gewicht ein, eine Niederlage zu verhindern. Der Antrag sei in Wahrheit ein Aufruf, die Regierung zu verlassen. "Die Konsequenzen sind, dass wir nicht mehr mit am Tisch sitzen", hatte Lang gewarnt.
Die Grünen-Führung konnte damit die wohl heikelste Debatte auf dem viertägigen Parteitag für sich entscheiden. Sie wurde vor allem von der Grünen Jugend geprägt. Dazu trug auch die Parteitags-Dramaturgie bei, neben gesetzten Beiträgen 20 Redende auszulosen. Mitglieder der Grünen Jugend warfen offenkundig in großer Zahl ihre Namen in die Lostrommel.
Zuvor hatte der Parteitag auch einen Kurswechsel bei der Speicherung und Nutzung von Kohlendioxid (CO2) vollzogen, den Habeck zuvor angestoßen hatte. Dies darf nun in einzelnen Branchen ein Instrument zum Erreichen der Klimaziele sein. Bisher waren die Grünen strikt dagegen. Anders als in der Asyldebatte konnte die Parteiführung schon vor der Abstimmung eine breite Mehrheit für diesen Kurswechsel organisieren.
GRÜNE JUGEND: UNMENSCHLICHE ASYLPOLITIK
In der Asyldebatte gab es einen scharfen Schlagabtausch vor allem mit der Grünen Jugend. Deren Co-Sprecherin Katharina Stolla warf den Grünen in Bundesregierung und Bundestag vor, sie seien "an den härtesten Asylrechtsverschärfungen seit 30 Jahren beteiligt". An Habeck gerichtet sagte sie: "Unmenschliche Asylpolitik ist keine Realität, das ist eine politische Entscheidung." Ihre Vorgängerin als Sprecherin, Sarah-Lee Heinrich, sagte: "Wir wollen nicht das Ende dieser Regierung. Wir wollen den Anfang einer anderen Asylpolitik."
Grünen-Abgeordnete wie Familien-Staatssekretärin Ekin Deligöz und die steuerpolitische Sprecherin Katharina Beck verwahrten sich gegen die Vorwürfe. Angesichts der Stimmung im Saal, in dem Anhänger der Grünen Jugend deren Redebeiträge mit lauten Rufen und Applaus begleiteten, zeigten sich einige Redende irritiert. Das sei dem Ernst des Themas nicht angemessen. Niemand stelle das Asylrecht infrage, sagte eine Delegierte. Sie wünsche sich eines nicht, "dass wir, weil wir ihnen Fußfesseln anlegen, aus der Regierung aussteigen". Auch Habeck äußerte sich irritiert "aufgrund der Tiefe und Schwierigkeit der Debatte von dieser Fußballstadionstimmung". Er warnte vor Konsequenzen, wenn sich der Antrag der Grünen Jugend durchsetzen sollte. "Es ist ein Misstrauensvotum in Verkleidung, das in Wahrheit sagt, verlasst die Regierung."
Die Grüne Jugend wollte rote Linien für Minister wie auch Abgeordnete durchsetzen. Sie sollten Asylrechtsverschärfungen, einer Kürzung von Sozialleistungen für Geflüchtete oder einer Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten nicht zustimmen dürfen. Auch den europäischen Kompromiss für Asylprüfungen an den EU-Außengrenzen hätten sie demnach aufkündigen sollen. "Ich kann das nicht einhalten", sagte Baerbock, die als letzte Rednerin auftrat. "Dann können wir nicht verhandeln. Und soll das wirklich der Auftrag dieses Parteitages sein?"
Bereits vor der Abstimmung zeigte die Parteiführung mit Änderungen an der Beschlussvorlage Entgegenkommen. Gestrichen wurde eine Formulierung, dass "auch die Zahlen sinken" müssten. Grundlage war ein Dringlichkeitsantrag des Bundesvorstandes, in dem die Leitlinien der Migrations- und Flüchtlingspolitik dargelegt sind. "Der zentrale Motor für Integration ist der Arbeitsmarkt", sagte Co-Parteichef Omid Nouripour. Die Grünen sehen sich immer wieder Kritik ausgesetzt, weil sie eine Begrenzung des Flüchtlingszuzugs ablehnen. Auch Vertreter der eigenen Basis etwa aus der Kommunalpolitik forderten auf dem Parteitag eine stärkere Steuerung.
In einer Umfrage kamen die Grünen auf den niedrigsten Wert seit fünfeinhalb Jahren. Im INSA-Sonntagstrend für "Bild am Sonntag" fielen sie um einen Punkt auf zwölf Prozent. In anderen Umfragen kommen sie auf 14 bis 15 Prozent. Damit liegen sie etwa auf Höhe ihres Ergebnisses bei der Bundestagswahl 2021, während SPD und FDP weit unter ihren Ergebnissen liegen.
(redigiert von Myria MildenbergerBei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)