- von Rene Wagner
Berlin (Reuters) - Corona-Ausfälle, akuter Lehrermangel, hohe Migration: Die Leistungen an deutschen Schulen sind so schlecht wie noch nie und im internationalen Vergleich nur Mittelmaß.
2022 fielen die Ergebnisse der 15-Jährigen sowohl in Mathematik als auch in Lesekompetenz und Naturwissenschaften deutlich schlechter aus als 2018, wie die am Dienstag veröffentlichte Pisa-Studie der Industriestaatengruppe OECD zeigt. Mehr noch: "Insgesamt handelt es sich bei den Ergebnissen von 2022 in allen drei Kompetenzbereichen um die niedrigsten Werte, die jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden", hieß es in der Studie, an der Deutschland seit dem Jahr 2000 teilnimmt. In Mathe und Lesen liegen die Leistungen ein ganzes Schuljahr hinter dem zurück, wo sie noch vor vier Jahren lagen. Experten und Wirtschaft reagierten schockiert. Sie befürchten enorme Wohlstandsverluste, sollte die Bildungspolitik nicht rasch gegensteuern.
"Einen derartigen Rückgang der Bildungsergebnisse hat es noch nie gegeben", sagte der Leiter des Zentrums für Bildungsökonomik am Münchner Ifo-Institut, Ludger Wößmann. Das koste Deutschland langfristig rund 14 Billionen Euro an Wirtschaftsleistung bis zum Ende des Jahrhunderts. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) forderte einen "fast schon revolutionären Neuanfang in unserem Bildungswesen". Die bisherigen Bildungsstandards, aber auch die Ausbildung der Lehrkräfte müssten auf den Prüfstand, erklärte BDA-Präsident Rainer Dulger.
VIELE SCHULAUSFÄLLE, GROSSER PERSONALMANGEL
"Die Corona-Pandemie scheint ein offensichtlicher Faktor zu sein", sagte OECD-Experte Francesco Avvisati der Nachrichtenagentur Reuters zu dem Negativtrend. Dadurch kam es zu Unterrichtsausfällen und Distanzunterricht. In Deutschland gaben 71 Prozent der Schülerinnen und Schüler an, dass in ihrem Schulgebäude wegen der Corona-Krise mehr als drei Monate lang kein Unterricht stattfand. Im OECD-Durchschnitt der 81 untersuchten Länder erlebten dagegen nur 51 Prozent ähnlich lange Schulschließungen.
"Corona alleine kann aber nicht alles erklären", betonte Avvisati. "Denn der steile Abfall der Leistungen zwischen 2018 und 2022 hat lediglich den negativen Trend, der schon vor 2018 zu sehen war, verstärkt." Die Schulleiter, die für die Pisa-Studie befragt wurden, sehen die Ursache für viele Schwierigkeiten im Mangel an gut qualifizierten Lehrkräften. Zugenommen hat zudem der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund, bei denen kein Elternteil in Deutschland geboren ist. Er hat sich von 2012 bis 2022 auf 26 Prozent verdoppelt. "Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund haben im Durchschnitt deutlich schlechtere Leistungen, auch nach Berücksichtigung sozio-ökonomischer Unterschiede", sagte Avvisati. Knapp zwei Drittel der zugewanderten Schüler gaben an, dass sie zu Hause meist eine andere Sprache sprechen als die, in der sie die Pisa-Tests absolviert haben.
"GEZIELTE SPRACHFÖRDERUNG"
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Katharina Günther-Wünsch, sprach von besorgniserregenden Ergebnissen. "Wir brauchen insbesondere eine gezielte Sprachförderung, die in der Frühen Bildung ansetzt und die Lernenden länger begleitet", sagte die Berliner Bildungssenatorin. Die Ergebnisse verdeutlichten zudem, dass vor allem Jugendliche, die selbst zugewandert sind, besondere Unterstützung benötigten. "Nicht zuletzt um ihnen einen Übergang in die berufliche Ausbildung, die soziale Teilhabe und gesellschaftliche Integration zu ermöglichen", sagte Günther-Wünsch.
OECD-Bildungsexperte Avvisati hält ein erfolgreiches Gegensteuern für machbar. "Eigentlich ist Deutschland ein großartiges Beispiel, dass positiver Wandel möglich ist", sagte er. Als vor rund zwei Jahrzehnten die ersten Pisa-Ergebnisse vorlagen, habe es viele Reformen im Bildungssystem gegeben, die schließlich zu einer Verbesserung führten.
In Mathematik lag der für Deutschland ermittelte Mittelwert bei 475 Punkten. Das sind 25 weniger als 2018 und liegt nur noch knapp über dem OECD-Durchschnitt, der um 15 auf 472 Zähler sank. Die Spitzenreiter Singapur (575), Japan (536) und Südkorea (527) liegen hier weit vorn, aber auch Nachbarländer wie die Schweiz (508) und die Niederlande (493) liegen klar vor der Bundesrepublik. In Sachen Lesekompetenz rutschte Deutschland um 18 auf 480 Punkte ab, was ebenfalls nur noch knapp über dem OECD-Schnitt liegt, der um zehn auf 476 Zähler nachgab. Hier führen Singapur (543), Japan und Irland (jeweils 516). In den Naturwissenschaften fielen die deutschen Schüler um elf auf 492 Punkte zurück. Hier liegt der OECD-Schnitt bei 485, ein Minus vom zwei Zählern im Vergleich zu 2018. Singapur (561), Japan (547) und Südkorea (528) landen hier weit vorn.
Insgesamt absolvierte 690.000 Schüler der 81 teilnehmenden Länder und Volkswirtschaften die Testrunde 2022. In Deutschland nahmen 6116 Jugendliche in 257 Schulen an den Tests in Mathematik, Lesekompetenz oder Naturwissenschaften teil.
(Bericht von Rene Wagner, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)