Reuters

Schwere Kämpfe im Süden des Gazastreifens

06.12.2023
um 14:37 Uhr

- von Bassam Masoud und IbraheemAbu Mustafa

Gazastreifen (Reuters) - Das israelische Militär und die radikal-islamische Palästinenser-Gruppe Hamas haben sich am Mittwoch erbitterte Gefechte im Süden des Gazastreifens geliefert.

Es ist eine der schwersten Kampfphasen seit Beginn des Krieges vor zwei Monaten. Zahlreiche Menschen versuchten, sich vor den Angriffen in Sicherheit zu bringen. Doch das wird immer schwieriger, da die israelische Bodenoffensive vor wenigen Tagen vom Norden auf den Süden des Gazastreifens ausgeweitet wurde - dorthin, wohin Israel zuvor Hunderttausende Palästinenser vor Beginn seiner Bodenoffensive Ende Oktober geschickt hatte. Nun weist Israel immer weniger Orte als sogenannte sichere Gebiete aus, die nicht angegriffen werden sollen.

Die israelischen Truppen seien in heftige Gefechte in Chan Junis verwickelt, teilte das Militär mit. Die größte Stadt im Süden des Gazastreifens ist seit Dienstag von israelischen Soldaten eingekesselt, die bereits ins Zentrum vorgedrungen sind. Die israelische Luftwaffe bombardierte erneut Ziele in dem dicht besiedelten schmalen Küstenstreifen, in dem rund 2,3 Millionen Menschen leben. Hunderte Ziele der Hamas seien angegriffen worden, teilte das Militär mit.

Auch die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Teil der Hamas, erklärten, ihre Kämpfer seien an Gefechten mit israelischen Truppen beteiligt. Am Dienstag seien acht israelische Soldaten getötet oder verletzt worden, erklärten die Kassam-Brigaden. Zudem seien 24 israelische Militärfahrzeuge zerstört worden. Nach israelischen Angaben wurden seit Beginn der Bodenoffensive vor fünf Wochen 84 israelische Soldaten getötet. Unabhängig überprüfen lassen sich solche Angaben nicht.

Palästinensische Sanitäter berichteten, die Krankenhäuser seien überfüllt mit Toten und Verletzten - darunter viele Frauen und Kinder. Zudem gingen die Vorräte zur Neige. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind die wenigen Krankenhäuser, die im gesamten Gazastreifen noch geöffnet sind, kaum funktionsfähig. Im Al-Aksa-Krankenhaus im Zentrum des Gazastreifens seien die Treibstoff- und Medikamentenvorräte auf ein kritisches Niveau gesunken, berichtete Ärzte ohne Grenzen. Hunderte Patienten benötigten eine Notfallversorgung. Marie-Aure Perreaut Revial, die Notfallkoordinatorin der internationalen Hilfsorganisation, sagte, das Krankenhaus nehme seit 1. Dezember im Schnitt 150 bis 200 kriegsverletzte Patienten pro Tag auf. "Mittlerweile sind 700 Patienten im Krankenhaus eingeliefert worden, und es kommen ständig neue hinzu."

Anwohner von Chan Junis berichteten, in der Nacht zu Mittwoch seien die israelischen Bombenangriffe verstärkt worden. Nördlich und östlich der Stadt seien Panzer im Einsatz gewesen. Sie stünden auch in der Nähe des Hauses des Hamas-Chefs im Gazastreifen, Jehja al-Sinwar. Ob sich dort jemand aufhielt, war unklar. Bei den Angriffen seien etliche Menschen getötet und verletzt worden. Genaue Zahlen der Opfer gab es zunächst nicht.

Auch das Flüchtlingslager Dschabalja wurde Anwohnern zufolge weiterhin vom israelischen Militär angegriffen - mit Panzern, Marinebooten und Kampfflugzeugen. Die Hamas setzt neben Raketen nach Erkenntnissen des in Washington ansässigen Institute for the Study of War zunehmend improvisierte Sprengsätze und Antipersonenminen ein. Sie ändere damit ihre Taktik im Nahkampf.

"EIN WUNDER, DASS WIR AUS DEN TRÜMMERN GEZOGEN WURDEN"

"Ich schwöre, wir wissen nicht einmal, wie wir lebend herausgekommen sind", sagte Hamdi Tanira und beschrieb einen Angriff auf ein Haus in Chan Junis, in dem er und etwa 30 Menschen, darunter 20 Kinder, geschlafen hätten. "Wir haben friedlich geschlafen und niemanden gestört", sagte auch Amal Mehdi, eine andere Überlebende. "Plötzlich trafen uns die Bomben. Man wusste nicht, woher sie kamen. Es war ein Wunder, dass wir unter den Trümmern hervorgezogen wurden."

Der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, Volker Türk, warnte vor einem erhöhten Risiko von Gräueltaten, die alle beteiligten Parteien unterlassen müssten. Seine Kollegen vor Ort hätten die Lage als "apokalyptisch" beschrieben, sagte er in Genf. "Es müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden, sowohl von den betroffenen Parteien als auch von allen Staaten, insbesondere von denen mit Einfluss, um solche Verbrechen zu verhindern." Nach UN-Angaben bezieht sich der Begriff "Gräueltaten" auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Hamas-Kämpfer hatten am 7. Oktober den Süden Israels überraschend überfallen. Nach israelischen Angaben wurden dabei rund 1200 Menschen getötet und 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Im Rahmen einer einwöchigen Feuerpause, die bis Freitag dauerte, wurden etwas mehr als 100 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel etwa 240 palästinensische Gefangene - Frauen und Minderjährige - aus seinen Haftanstalten. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden im Gazastreifen vom Dienstag wurden seit Kriegsbeginn rund 16.300 Menschen getötet, darunter mehr als 7100 Kinder und rund 4900 Frauen. Tausende Menschen werden noch vermisst und liegen wohl unter den Trümmern zahlloser zerstörter Häuser begraben.

(geschrieben von Sabine Ehrhardt, redigiert von Hans Busemann. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)