- von Andreas Rinke und Alexander Ratz
Berlin (Reuters) - Trotz der gemeinsamen Proteste gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz und Oppositionsführer Friedrich Merz scharf angegriffen und sich gegenseitig vorgeworfen, Reformen in Deutschland zu verhindern.
"So eine Hasenfüßigkeit, vor der eigenen Verantwortung wegzulaufen, habe ich noch nie erlebt", sagte ein ungewohnt kämpferischer Kanzler am Mittwoch in der Generaldebatte im Bundestag mit Blick auf die abgebrochenen Gespräche über eine gemeinsam getragene Migrations-Politik. CDU-Chef Merz wiederum lehnte jede Zusammenarbeit mit der Regierung ab und verwies auf schlechte Erfahrungen: "Ersparen Sie uns doch bitte die Aufrufe zur Zusammenarbeit", sagte Merz. Union und die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP seien "in allen wesentlichen Fragen" unterschiedlicher Ansicht, und zwar "nicht im Detail, sondern im Grundsatz".
Der Schlagabtausch kommt wenige Tage vor einer Großdemonstration in Berlin gegen Rechtsextremismus, auf der Hunderttausende Menschen erwartet werden und an der sich sowohl die Ampel als auch die Union beteiligen wollen. Sowohl Scholz als auch Merz warfen der rechtspopulistischen AfD vor, eine Gefahr für Deutschland zu sein. AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel wiederum sagte, die Ampel ruiniere das Land, "weil Sie ihr eigenes Land, weil Sie Deutschland hassen".
Mit Blick auf Berichte über Diskussionen zwischen AfD-Funktionären und Rechtsextremen über mögliche Massenabschiebungen betonte Scholz, dass man sich vor Menschen mit Migrationshintergrund stellen werde, die nun Deportationen fürchteten. Der Kanzler warf wiederum CDU-Chef Merz "kleines Karo" vor, wenn dieser der Ampel die Verantwortung für den Aufstieg der AfD gebe. "Wir müssen als Demokraten zusammenstehen", forderte Scholz. Merz verwies darauf, dass die AfD in Umfragen seit dem Beginn der Ampel-Regierung von rund zehn auf über 20 Prozent zugelegt habe. Die Regierung müsse die Probleme im Land endlich lösen und keine neuen hinzufügen. In den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg liegt die teilweise als rechtsextrem eingestufte AfD in Umfragen vor den Landtagswahlen im Herbst jeweils an der Spitze.
Die AfD-Co-Vorsitzende Weidel griff die Journalisten des Recherchenetzwerks Correctiv an, die über das umstrittene Treffen in Potsdam berichtet hatten. Diese seien eine "Hilfsstasi" der Regierung nach dem Motto "Wird der Bürger unangenehm, bezeichne ihn als rechtsextrem."
ERSTMALS WIRD SCHOLZ PERSÖNLICH
Erstmals griff der Kanzler Oppositionsführer Merz in einer Bundestagsdebatte mehrfach direkt und persönlich an. Scholz warf dem CDU-Chef etwa mangelnde Kenntnis vor, nachdem dieser Fortschritte bei einer Bezahlkarte für Asylbewerber eingefordert hatte. Der SPD-Politiker verwies darauf, dass sich Bund und Länder bereits geeinigt hätten. Am Mittwochmorgen hatte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) eine Absprache von 14 der 16 Länder zur Einführung einer solchen Bezahlkarte bekanntgegeben, die einen Missbrauch von Zahlungen an Asylbewerber begrenzen soll.
Unversöhnlich zeigten sich SPD und Grüne auf der einen, Union und die Ampel-Partei FDP auf der anderen Seite auch beim Thema Schuldenbremse. Merz kündigte an, dass die Union einer Grundgesetzänderung auf keinen Fall zustimmen werde und deshalb die nötige Zweidrittelmehrheit nicht zustande komme. Die Aufgaben, vor denen das Land stehe, könnten auch ohne weitere Schulden und ohne Steuererhöhungen gelöst werden. In der Debatte sprach sich auch FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai klar gegen eine Reform der Schuldenbremse aus.
Dagegen appellierte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich an Merz, seine Haltung zu überdenken. Scholz warf der Union sogar vor, "wieder alle Wachstumsbremsen" einziehen zu wollen. Die Union habe "null ökonomischen Sachverstand". Er verwies darauf, dass es in der ehemaligen großen Koalition von Union und SPD unter CDU-Kanzlerin Angela Merkel gelungen sei, einen milliardenschweren EU-Wiederaufbaufonds nach der Corona-Pandemie auch mit Krediten auf EU-Ebene zu beschließen. "Man muss auch mal stolz darauf sein, was eine eigene Regierungschefin zustande gebracht hat", sagte er an Merz gerichtet.
(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)