Reuters

Israels Armee befreit zwei Geiseln - Zahlreiche Palästinenser getötet

12.02.2024
um 13:32 Uhr

- von Nidal al-Mughrabi und Emily Rose

Doha/Jerusalem (Reuters) - Israel hat bei Angriffen auf das von Flüchtlingen überfüllte Rafah im Süden des Gazastreifens nach eigenen Angaben zwei Geiseln der Hamas befreit.

Dabei wurden palästinensischen Angaben zufolge am Montag in der Grenzstadt mindestens 67 Palästinenser getötet und Dutzende verletzt. Das israelische Militär teilte mit, bei einem gemeinsamen Einsatz der Armee mit dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet und einer Spezialeinheit der Polizei seien zwei Männer im Alter von 60 beziehungsweise 70 Jahren aus der Gewalt der Hamas befreit worden. Luftangriffe hätten den Rückzug der Sondereinsatzkräfte gedeckt. Einwohnern zufolge wurden bei den mehr als einstündigen Angriffen israelischer Kampfflugzeuge, Panzer und Schiffe am frühen Morgen zwei Moscheen und mehrere Häuser getroffen. Die Opferzahl könne noch steigen, teilte die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde mit.

Rafah an der abgeschotteten Grenze zu Ägypten ist der letzten Zufluchtsort von mehr als einer Million palästinensischer Kriegsflüchtlinge, die vor den Kämpfen im weitgehend zerstörten Norden des Gazastreifens geflohen sind. Hilfsorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichten von katastrophalen Zuständen und fordern eine Waffenruhe zur Versorgung der notleidenden Bevölkerung.

NETANJAHU: MILITÄRISCHER DRUCK AUF HAMAS MUSS HOCH BLEIBEN

Die beiden befreiten Männer, Fernando Simon Marman (60 Jahre) und Louis Hare (70), waren beim Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober aus dem Kibbuz Nir Jizhak entführt worden. "Wir haben lange auf diese Operation hingearbeitet", sagte der israelische Militärsprecher Oberstleutnant Richard Hecht. "Wir haben auf die richtigen Bedingungen gewartet." Die Männer seien aus dem zweiten Stock eines Gebäudes befreit worden, wobei es zu einem heftigen Schusswechsel gekommen sei. Ein Foto zeigte die beiden Männer in einem Krankenhaus in Israel gemeinsam mit Angehörigen. Sie sollen zwar etwas geschwächt, aber in insgesamt guter körperlicher Verfassung sein. Sie haben beide die israelische und argentinische Staatsbürgerschaft. Die argentinische Regierung dankte Israel für die Rettung.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte an, die Armee werde keine Gelegenheit auslassen, weitere Geiseln im Gazastreifen zu befreien. Für eine Befreiung aller Geiseln sei anhaltender militärischer Druck bis zum "vollständigen Sieg" über die Hamas notwendig, sagte er. Zuletzt hatten die USA, Deutschland und andere Länder sowie Hilfsorganisationen von Israel im Gaza-Krieg mehr Schutz für die Bevölkerung eingefordert. US-Präsident Joe Biden hatte Netanjahu in einem Telefonat am Sonntag aufgefordert, keinen Militäreinsatz in Rafah ohne einen glaubwürdigen Plan für die Sicherheit der Zivilisten dort zu beginnen. Hilfsorganisationen warnen, ein Angriff auf Rafah wäre katastrophal. Ägypten hat die Grenzabriegelung verstärkt, weil es vermeiden will, dass die Palästinenser aus dem Gazastreifens vertrieben werden und nicht mehr zurückkehren.

LUFTANGRIFFE LÖSEN PANIK AUS - ANGST VOR BODENOFFENSIVE

Einwohner in Rafah berichteten, dass die Menschen von den israelischen Angriffen in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden seien und Panik ausgebrochen sei. Ein Reuters-Reporter in Rafah sah ein riesiges Trümmerfeld mit zerstörten Gebäuden, darunter auch eine Moschee. "Es war die schlimmste Nacht, seit wir im vergangenen Monat nach Rafah gekommen sind. Der Tod war so nah, als Granaten und Raketen 200 Meter von unserem Zeltlager entfernt einschlugen", sagte der Geschäftsmann Emad aus Gaza-Stadt, Vater von sechs Kindern, zu Reuters über eine Chat-App. Einige habe die Angst umgetrieben, dass Israel eine lange befürchtete Bodenoffensive auf die Stadt gestartet habe. "Meine Familie und ich haben unsere letzten Gebete gesprochen", sagte Emad. Ein anderer Vater berichtete, dass seine Kinder bei Luftangriffen vier Kilometer entfernt von dem Einsatz zur Geiselbefreiung getötet worden seien.

Israel hat angekündigt, dass die Menschen aus Rafah Richtung Norden evakuiert werden sollten. Aber auch dort wird weiter gekämpft: Palästinensischen Sanitätern zufolge wurden bei einem Luftangriff in der Stadt Deir Al-Balah im Zentrum des Küstengebiets 15 Menschen getötet.

Die Hamas bezeichnete den israelischen Angriff auf Rafah als Fortsetzung des "völkermörderischen Krieges" und der Vertreibungsversuche, die Israel gegen das palästinensische Volk führe. Sie hatte zuvor gewarnt, dass eine israelische Bodenoffensive in Rafah jegliche Verhandlungen über eine Freilassung der verbliebenen Geiseln zunichtemachen würde. Israelischen Angaben zufolge sind nach einem ersten Gefangenenaustausch im November von den ursprünglich rund 250 Geiseln, die bei dem Hamas-Überfall am 7. Oktober verschleppt wurden, noch mehr als 130 in der Gewalt von Extremisten im Gazastreifen. Nach Angaben des israelischen Militärs sind inzwischen 31 Geiseln ums Leben gekommen. Bei dem Hamas-Angriff waren 1200 Menschen in Israel getötet worden. Israel reagierte darauf mit einer Militäroffensive gegen die Hamas im Gazastreifen, bei der nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörde mehr als 28.000 Palästinenser getötet wurden. Die Hamas hat seit der Wahl 2006 im Gazastreifen das Sagen, seither gab es auch im Westjordanland keine Abstimmung mehr.

(Bericht von Nidal al-Mughrabi, Emily Rose und Dan Williams. Geschrieben von Christian Götz, redigiert von Sabine Ehrhardt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)