- von Andreas Rinke
Berlin/Moskau (Reuters) - Die Veröffentlichung einer abgehörten Videokonferenz deutscher Offiziere zu einer möglichen Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine hat die Spannungen zwischen Deutschland und Russland verschärft.
"Die Aufnahme... besagt, dass innerhalb der Bundeswehr Pläne für Angriffe auf russisches Territorium inhaltlich und konkret diskutiert werden", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zu Reportern. Ein Sprecher der Bundesregierung sprach dagegen von einer "absurden, infamen russischen Propaganda". Die Führung in Moskau versuche den Westen und Deutschland mit der Veröffentlichung des Mitschnitts zu spalten. Bundeskanzler Olaf Scholz machte erneut deutlich, dass er keine Möglichkeit zur Lieferung der Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 Kilometern sieht.
In dem am Freitag von Russland veröffentlichten mehr als 30-minütigen Mitschnitt sind führende deutsche Offiziere zu hören, die eine mögliche Taurus-Lieferung diskutieren. Sie betonen, dass weder Scholz noch Verteidigungsminister Boris Pistorius eine positive Entscheidung getroffen hätten. Sie kommen zum Schluss, dass es kaum möglich sein wird, Taurus kurzfristig zu liefern, ohne dass deutsche Soldaten an der Zielauswahl beteiligt wären. Bei einer langen Ausbildung - die Rede ist von acht Monaten - könnte die Ukraine selbst in der Lage sein, Taurus zu bedienen. Dies allerdings wiederum auf Grundlage deutscher Daten.
Bundeskanzler Scholz bekräftigte am Montag in Sindelfingen in einer Diskussion mit Schülern, dass er keine Möglichkeit für eine Lieferung sieht. "Es kann nicht sein, dass man ein Waffensystem liefert, das sehr weit reicht und dann nicht darüber nachdenkt, wie die Kontrolle über das Waffensystem stattfinden kann", sagte Scholz. "Und wenn man die Kontrolle haben will und es nur geht, wenn deutsche Soldaten beteiligt sind, ist das für mich ausgeschlossen", fügte der SPD-Politiker hinzu. Er hatte vergangene Woche davor gewarnt, dass mit Taurus auch Ziele in Moskau angegriffen werden könnte. Scholz kritisierte erneut, dass in der deutschen Debatte nur über ein Waffensystem gesprochen werde, aber nicht darüber, dass Deutschland weit mehr Militärhilfe als jedes andere europäische Land leiste.
AUFARBEITUNG IN DEUTSCHLAND
Die Union forderte wegen der Abhöraffäre bei der Bundeswehr eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses. "Das ist eine so brisante Angelegenheit, dass es richtig ist, dass sich der Verteidigungsausschuss mit diesen Fragen beschäftigt", sagte Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am Montag den Sendern RTL und ntv. Eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses wäre der erste Schritt, sagte Frei. In der kommenden Woche werde es zudem eine Regierungsbefragung mit Kanzler Scholz im Bundestag geben.
Bei der von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gestellte Forderung nach einem Untersuchungsausschuss bremste CDU-Politiker Frei dagegen. "Gegebenenfalls, wenn das Aufklärungsinteresse nicht befriedigt werden kann, braucht es auch einen Untersuchungsausschuss. Aber wir machen das Schritt für Schritt", betonte Frei. Geklärt werden müsse: "Was ist hier an Informationen preisgegeben worden? Wie passt das zur Argumentation des Bundeskanzlers? Wann und auf welcher Grundlage war der Bundesverteidigungsminister eingebunden?"
Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang interpretierte den Mitschnitt wie die Union als Beleg, dass man Taurus liefern könne, ohne selbst Kriegspartei zu werden. Der Vorgang müsse jetzt schnell, umfassend und entschlossen aufgearbeitet werden. "Genauso wichtig ist hier auch, wie Verteidigungsminister Pistorius gestern nochmal gesagt hat, wir dürfen uns nicht spalten lassen, so wie es Putin will", fügte sie hinzu. Pistorius (SPD) hatte am Sonntag rasche Aufklärung über den Mitschnitt des Gesprächs der Offiziere versprochen, die vor allem der Militärische Abschirmdienst (MAD) leisten soll. Dies werde einige Tage in Anspruch nehmen, sagte ein Ministeriumssprecher am Montag.
SPANNUNG MIT MOSKAU - ABSTIMMUNG MIT VERBÜNDETEN
Das Auswärtige Amt dementierte am Montag, dass der deutsche Botschafter in Moskau vorgeladen worden sei. Das Gespräch im russischen Außenministerium sei länger geplant gewesen. Kreml-Sprecher Peskow sagte zu Journalisten in Moskau zu dem Mitschnitt über die Diskussion über eine Taurus-Lieferung: "Hier müssen wir herausfinden, ob die Bundeswehr dies auf eigene Initiative tut. Dann ist die Frage: Wie kontrollierbar ist die Bundeswehr und wie sehr hat Scholz die Situation unter Kontrolle? Oder ist es Teil der deutschen Regierungspolitik?" Der russische Ex-Präsident und Vizevorsitzende des nationalen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, droht Deutschland wie schon am Wochenende. Ein Regierungssprecher in Berlin verwies darauf, dass man sich angesichts wiederholter Drohungen aus Moskau davon nicht beeindrucken lasse.
Vertreter der Bundesregierung wollten am Montag nicht sagen, ob durch die Veröffentlichung ein Schaden im Verhältnis zu den Verbündeten eingetreten sei. In dem Mitschnitt ist auch zu hören, dass die Bundeswehr-Offiziere von britischen Soldaten reden, die in der Ukraine an der Zieleinstellung der britischen Marschflugkörper Storm Shadow und der bauähnlichen französischen Scalp-Rakete mithelfen sowie von Zivilisten mit "amerikanischen Akzent" in der Ukraine. Scholz hat bisher betont, dass die Nato trotz aller Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf nicht Konfliktpartei mit Russland werden dürfe.
Außenminister Annalena Baerbock fliegt am Dienstag nach Paris und wird am Donnerstag ihren britischen Kollegen David Cameron in Berlin empfangen. Bei einem Besuch in Montenegro sagte sie am Montag, man müsse prüfen, wie man der Ukraine weiter helfen könne. "Aus meiner Sicht ist die Faktenlage sehr, sehr klar", fügte sie aber mit Blick auf die Taurus-Debatte dazu. Anders als Scholz gilt die Grünen-Politikerin als Befürworterin einer Taurus-Lieferung an die Ukraine.
(Bericht von Andreas Rinke, Alexander Ratz, Reuters-Büros; redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)