- von Nidal al-Mughrabi und Dan Williams und Aidan Lewis
Kairo/Jerusalem/Brüssel (Reuters) - Internationale Experten schlagen Alarm wegen der immer prekäreren Versorgungslage im Gazastreifen. 1,1 Millionen Menschen, also fast die Hälfte der Bevölkerung, liefen inzwischen Gefahr, an einer katastrophalen Lebensmittel-Knappheit zu leiden, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Bericht der von den Vereinten Nationen geförderten IPC-Plattform, die Daten auswertet, um den Schweregrad von Nahrungsmittelkrisen zu bestimmen. Im nördlichen Gazastreifen sei innerhalb der nächsten zwei Monate eine Hungersnot wahrscheinlich. EU-Chefdiplomat Josep Borrell warf Israel vor, eine Hungersnot in Gaza zu provozieren. Hunger werde als Waffe eingesetzt. Das sei nicht akzeptabel. Israel wies die Vorwürfe zurück. Eine baldige Feuerpause war weiter nicht in Sicht.
Die meisten Kriterien zur Definition einer Hungersnot seien in Teilen des Gazastreifens bereits mehr als erfüllt, hieß es in dem IPC-Bericht. Noch könne eine Hungersnot vermieden werden. Dazu müssten jedoch Israel und die radikalislamische Hamas ihre Kämpfe sofort einstellen und Hilfsorganisationen Zugang erhalten. Borrell sagte in Brüssel, in Gaza stehe man nicht mehr am Rande einer Hungersnot. "Wir befinden uns im Zustand einer Hungersnot, die Tausende Menschen betrifft."
Israels Außenminister Israel Katz forderte Borrell auf, Attacken gegen sein Land zu unterlassen und dessen Recht auf Selbstverteidigung "gegen Verbrechen der Hamas" anzuerkennen. Israel gewähre umfangreiche humanitäre Hilfe über den Land-, Luft- und Seeweg durch jeden, der helfen wolle. Gewaltsam gestört werde dies jedoch von Hamas-Extremisten, die mit dem Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA) "kollaborierten".
Israel wirft dem UNRWA vor, dass zwölf der 13.000 Mitarbeiter in Gaza an dem Hamas-Überfall am 7. Oktober beteiligt gewesen seien. Das Massaker, bei dem 1200 Menschen in Israel getötet und 253 Geiseln genommen wurden, war der Auslöser des Kriegs. Das UNRWA hat den Überfall verurteilt und erklärt, dass die Vorwürfe Israels, sofern sie sich bewahrheiteten, ein Verrat an den UN-Werten seien. Es entließ mehrere Mitarbeiter, um weiter Hilfe liefern zu können.
UNRWA-Chef Philippe Lazzarini teilte auf einer Pressekonferenz in Kairo mit, er habe am Montag nach Rafah fahren wollen, Israel habe ihm jedoch den Zugang verwehrt. Ägyptens Außenminister Sameh Schukri sprach von einem beispiellosen Vorgang. Rafah liegt im Süden des Gazastreifens, Hunderttausende Menschen sind dorthin vor den Kämpfen im Rest des Küstengebiets geflüchtet. Israel droht mittlerweile auch mit einem Einsatz in Rafah.
Im nördlichen Sektor des Gazastreifens griffen israelische Truppen in der Nacht das Al-Schifa-Krankenhaus an, eine der wenigen noch teilweise funktionierenden medizinischen Einrichtungen in dem Küstengebiet. Die Soldaten begründeten den Einsatz mit Geheimdienstinformationen, wonach die Klinik von ranghohen Hamas-Mitgliedern genutzt werde. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza brach am Eingang des Krankenhauses ein Feuer aus. Es habe Tote und Verletzte gegeben.
In Katar standen derweil neue Verhandlungen über eine Waffenruhe an. Eine israelische Delegation sollte unter der Leitung des Chefs des Geheimdienstes Mossad anreisen. Ziel sei eine Unterbrechung der Kämpfe für sechs Wochen, teilte ein israelischer Regierungsmitarbeiter mit. Im Gegenzug sollen 40 israelische Geiseln übergeben werden. Der mit dem Vorgang vertraute Regierungsmitarbeiter schätzte, dass die indirekt über Vermittler geführten Verhandlungen mit der Hamas mindestens zwei Wochen dauern werden.
(Geschrieben von Christian Rüttger; Redigiert von Scot W. Stevenson; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)