ROUNDUP 3: Weltstrafgericht erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
(neu: Stellungnahme vom Chefankläger Khan)
DEN HAAG (dpa-AFX) - Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg erlassen. Auch gegen den früheren Verteidigungsminister des Landes, Joav Galant, sowie gegen einen Anführer der Terrororganisation Hamas, Mohammad Diab Ibrahim Al-Masri, ergingen Haftbefehle. Netanjahu ist damit der erste demokratisch gewählte westliche Regierungschef, der von dem Weltstrafgericht mit Haftbefehl als mutmaßlicher Kriegsverbrecher gesucht wird.
Die Richter in Den Haag stimmten einem Antrag des Chefanklägers Karim Khan vom Mai zu. Netanjahu und Galant stehen demnach unter dem Verdacht von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit dem 8. Oktober 2023 im Gazastreifen.
Die Empörung über die Haftbefehle ist in Israel groß. Netanjahu sprach von einer "antisemitischen Entscheidung". Sie sei von "voreingenommenen Richtern getrieben von antisemitischem Hass gegen Israel" getroffen worden, stand in einer Erklärung seines Büros.
Der Druck auf Israel könnte nun zunehmen. Kurzfristig dürfte der Haftbefehl kaum konkrete Folgen haben. Die Reisemöglichkeiten der Gesuchten sind aber stark eingeschränkt. Die 124 Mitgliedsstaaten des Gerichtshofes - darunter Deutschland - sind verpflichtet, Gesuchte festzunehmen, sobald sie sich in ihrem Hoheitsgebiet befinden.
Aushungern der Zivilbevölkerung
Eine zentrale Anschuldigung gegen die israelischen Politiker ist das Aushungern der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, wie aus der einstimmig gefällten Entscheidung hervor geht. Die Richter sehen ausreichende Gründe für die Annahme, dass Netanjahu und Galant "absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben." Die beiden Politiker seien somit möglicherweise für Mord und Verfolgung verantwortlich. Nach Ansicht der Richter hätten die direkten Angriffe auf die Zivilbevölkerung keinen militärischen Zweck.
Hamas-Militärchef Al-Masri - bekannt unter dem Namen Deif - wird wegen der Massaker vom 7. Oktober 2023 gegen Israelis gesucht. Der Massenmord war vor gut 13 Monaten Auslöser des Gaza-Krieges. Unter anderem werden Deif Folter, Vergewaltigung und Mord zur Last gelegt. Er soll bei einem israelischen Bombenangriff im Gazastreifen getötet worden sein. Eine offizielle Bestätigung für seinen Tod gab es jedoch nie.
Kritik auch von der Opposition
Selbst viele Gegner Netanjahus in Israel sehen die Entscheidung des Gerichts kritisch, weil aus ihrer Sicht gegen andere Staatschefs, wie etwa Baschar al-Assad in Syrien, keine Haftbefehle wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen wurden. Sie werfen dem Gericht vor, parteiisch zu sein.
Auch aus der israelischen Opposition kam Kritik an der Entscheidung, sie belohne die Terroristen, gegen die sich Israel im Gaza-Krieg wehre, schrieb Oppositionsführer Jair Lapid auf der Plattform X.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland übte scharfe Kritik. "Dieser Haftbefehl gegen einen Ministerpräsidenten eines demokratischen Staates und seinen früheren Verteidigungsminister ist eine Absurdität", erklärte Zentralratspräsident Josef Schuster in Berlin. Von der Bundesregierung gab es zunächst keine Reaktion.
Israel bestreitet Vorwürfe
Chefankläger Khan begrüßte die Entscheidung der Richter. Dies bestätige, dass das internationale Recht unter allen Umständen durch faire und unparteiische Prozesse aufrechterhalten werden müsse. Er rief alle Vertragsstaaten auf, sich an ihre im Grundlagenvertrag festgeschriebenen Verpflichtungen zu halten. "Wir zählen auf ihre Zusammenarbeit in diesem Fall, genau wie in allen anderen Fällen in der Zuständigkeit des Gerichts."
Chefankläger Khan ermittelt seit Monaten wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg. Israel hatte Beschwerde gegen die Beantragung der Haftbefehle eingereicht, doch diese wiesen die Richter jetzt zurück. Netanjahu Regierung bestreitet Kriegsverbrechen im Gazastreifen. Das Land verteidige sich nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 gegen die Terrorgruppe.
Hamas jubelt
Die islamistische Hamas feierte die internationalen Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant als historischen Schritt. Die Entscheidung sei ein "wichtiger historischer Präzedenzfall und eine Korrektur eines langen Wegs historischer Ungerechtigkeit gegen unser Volk", hieß in einer Hamas-Mitteilung.
Israel weiter isoliert
Die israelische Regierung wird durch die Entscheidung des Gerichts international noch stärker isoliert. In Israel fürchtet man, dass die eigene Position bei den Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg geschwächt werde und der Druck auf das Land zunehmen könnte, einer Einigung zuzustimmen, die nicht die Freilassung der noch immer von der Hamas festgehaltenen Geiseln vorsieht.
Reisefreiheit beschränkt
Die "Times of Israel" sprach von einer "gewaltigen juristischen Bombe", doch halten israelische Medien die praktischen Auswirkungen für begrenzt und die Haftbefehle für nicht durchsetzbar, auch weil weder die USA noch Israel den Strafgerichtshof anerkennen. Da die palästinensischen Gebiete aber Vertragsstaat sind, darf Chefankläger Khan auch ermitteln.
Das Weltstrafgericht kennt keine Immunität von Staats- oder Regierungschefs. Bereits 2023 erließ es einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine. Das Gericht mit Sitz in Den Haag hat aber selbst keine Möglichkeiten, die Haftbefehle auch zu vollstrecken.
International viel Kritik
Schon der Antrag des Chefanklägers auf die Haftbefehle löste international Schockwellen aus. Auch Israels wichtigster Verbündeter, die USA, hatten sich gegen die Haftbefehle ausgesprochen. Die USA erkennen aber wie Israel das Gericht nicht an. Andere Länder wie etwa Frankreich stärkten dem Strafgerichtshof dagegen den Rücken. Doch die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Bereits 2021 hatte das Gericht festgestellt, dass es auch für Gebiete zuständig sei, die seit 1967 von Israel besetzt sind./ab/DP/nas