Reuters

Regierung setzt auf Arbeitskräfte-Zuwanderung

29.03.2023
um 12:17 Uhr

- von Holger Hansen

Berlin (Reuters) - Die Bundesregierung hat am Mittwoch zwei Gesetze und eine Verordnung auf den Weg gebracht, die darauf abzielen, dass es in Deutschland genügend und gut ausgebildete Arbeitskräfte gibt.

Weil die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre nach und nach in Rente gehen, schrumpft das Arbeitskräfteangebot auf längere Sicht. Bis zum Jahr 2035 könnten bis zu sieben Millionen Personen weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, hat das IAB-Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit ausgerechnet.

Die Bundesregierung will daher mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Deutschland holen und zugleich die Weiterbildung während des Berufslebens stärken. Dabei geht es nicht nur um Fachkräfte, sondern auch um Arbeitskräfte ohne anerkannte Berufsabschlüsse, die auf Grundlage eines neuen Punktesystems nach Deutschland kommen können. Neu ist auch eine Ausbildungsgarantie für junge Menschen. Es folgt ein Überblick:

"GESETZ ZUR WEITERENTWICKLUNG DER FACHKRÄFTE-EINWANDERUNG"

Arbeitskräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) sollen leichter nach Deutschland kommen können. Innerhalb der EU gibt es für Arbeitskräfte bereits keine echten Grenzen mehr. Im Reuters vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, die Regelungen könnten die Arbeitskräfte-Einwanderung aus Drittstaaten um jährlich 60.000 Personen erhöhen. Das entspräche etwa einer Verdoppelung der Zuwanderung zu Erwerbszwecken aus Drittstaaten im Jahr 2019 vor der Corona-Pandemie. 2021 kamen mit Aufenthaltstiteln oder Visa zu Erwerbszwecken etwa 40.000 Personen aus Drittstaaten nach Deutschland.

Drei Wege sollen nach Deutschland führen:

- Qualifikation: Voraussetzungen für die Zuwanderung von Fachkräften sind ein in Deutschland anerkannter Berufs- oder ein Hochschulabschluss und ein Arbeitsvertrag. Neu ist, dass diese Fachkräfte künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben dürfen. Sie bleiben nicht auf ihren angestammten Beruf beschränkt. Für die seit vielen Jahren bestehende Blaue Karte EU als Arbeitserlaubnis für Hochschulabsolventen aus Drittstaaten werden die Mindestgehälter gesenkt. Zugang dazu sollen auch IT-Kräfte mit Berufserfahrung auf akademischem Niveau bekommen.

- Berufserfahrung: Sie soll stärker als bisher zur Einreise berechtigen. Voraussetzung sind mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und ein im Herkunftsland staatlich anerkannter Berufsabschluss. In Deutschland muss der Abschluss noch nicht anerkannt sein. Das bedeutet eine deutliche Vereinfachung. Es wird ein Mindestgehalt festgelegt. Wer diese Gehaltsschwelle nicht erreicht, muss seinen Berufsabschluss in Deutschland anerkennen lassen. Neu ist, dass die Person bereits in Deutschland arbeiten darf, während das Anerkennungsverfahren noch läuft - wenn sich der Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitskraft für eine notwendige Qualifikation freizustellen.

- Potenzial: Der dritte Weg richtet sich an Menschen, die noch keinen Arbeitsvertrag in Deutschland haben, aber über gutes Potenzial verfügen, hierzulande eine Beschäftigung zu finden. Ihnen soll die Arbeitssuche erleichtert werden. Eintrittskarte soll eine Chancenkarte sein: Für Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug und Alter werden auf der Grundlage von zehn Merkmalen Punkte vergeben.

Um mit der Chancenkarte einreisen zu können, müssen darauf mindestens sechs Punkte gesammelt werden: Für "gute deutsche Sprachkenntnisse" gibt es drei Punkte, bei "ausreichenden" noch zwei Punkte - und einen Punkt für englische Sprachkenntnisse auf den Niveau C1. Wer jünger als 35 Jahre ist, bekommt zwei Punkte - Unter-40-Jährige noch einen Punkt. Die Höchstzahl von vier Punkten gibt es für eine Berufsqualifikation, die bei Nachqualifizierung als gleichwertig mit einem deutschen Abschluss anerkannt würde.

Die Chancenkarte darf nur erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt gesichert ist. Während der Arbeitsplatzsuche soll es die Möglichkeit einer zweiwöchigen Probebeschäftigung in Vollzeit geben. Darüber hinaus soll eine Nebenbeschäftigung von 20 Stunden in der Woche zulässig sein.

- Westbalkan-Regelung und andere Erleichterungen: In einer ergänzenden Verordnung wird die bis Ende 2023 befristete Westbalkan-Regelung entfristet. Auf deren Grundlage können Arbeitgeber in Deutschland bisher jährlich 25.000 Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, der Republik Nordmazedonien, Montenegro und Serbien anwerben. Das Kontingent wird auf 50.000 erhöht. Die Regelung gilt als Erfolgsmodell, das viele qualifizierte Arbeitskräfte nach Deutschland gebracht hat.

Es soll zudem ein Zugang zum Arbeitsmarkt für ausländische Pflegehilfskräfte mit einer Ausbildung unterhalb des Fachkräfteniveaus geschaffen werden. Arbeitskräfte aus allen Staaten können zudem für sechs Monate jede sozialabgabenpflichtige Tätigkeit ausüben, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist und vollständig die Reisekosten trägt.

ERSTES WEITERBILDUNGSGESETZ

Es enthält Förderinstrumente für Beschäftigte und Ausbildungssuchende. Damit sollen strukturwandelbedingte Arbeitslosigkeit vermieden und Weiterbildung gestärkt werden. Neu sind eine Ausbildungsgarantie und ein Qualifizierungsgeld. Künftig haben junge Leute einen Anspruch auf eine außerbetriebliche Ausbildung, wenn sich keine anderen Ausbildungsmöglichkeiten finden.

Das Qualifizierungsgeld soll Beschäftigte und Unternehmen bei Strukturwandel und Transformation unterstützen: Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt bei Weiterqualifizierung die Lohnzahlung in Höhe von bis zu 67 Prozent des Netto-Gehalts.

Gestrichen wurde vorerst die von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) geplante Bildungszeit. Dafür sollten sich Beschäftigte ein Jahr freistellen lassen können und Unterstützung von der Bundesagentur für Arbeit in Höhe des Arbeitslosengeldes erhalten. In Regierungskreisen hieß es, das Vorhaben sei auf ein zweites Weiterbildungsgesetz verschoben worden, da das Finanzministerium Bedenken angemeldet habe.

(Bericht von Holger Hansen, redigiert von Sabine Ehrhardt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)