KIEW/BRÜSSEL/BERLIN (dpa-AFX) - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht im Verwirrspiel um russische Gaslieferungen nach Europa eine Form von Moskauer Terror gegen den Westen. "Dies ist ein offener Gas-Krieg, den Russland entfacht gegen das vereinte Europa", sagte Selenskyj in Kiew. Russland mache es Europa absichtlich schwer, sich auf den Winter vorzubereiten.
Die EU-Staaten einigten sich am Dienstag auf einen Notfallplan zur Drosselung des Gaskonsums. Bei einem Treffen der Energieminister in Brüssel kam die notwendige Mehrheit zusammen, wie die tschechische Ratspräsidentschaft bestätigte. Der Plan soll vor allem die Risiken reduzieren, die bei einer vollständigen Unterbrechung russischer Gaslieferungen entstünden. Für Mittwoch hat der Konzern Gazprom
Deutschland schickte der Ukraine zur Abwehr gegen Russland weitere schwere Waffen, darunter Mehrfachraketenwerfer und Panzerhaubitzen. Aus dem Land selber wurden erneut russische Angriffe mit Toten und Verletzten gemeldet. Russland verkündete seinerseits den Ausstieg aus dem bedeutendsten Gemeinschaftsprojekt im Weltall, der Internationalen Raumstation ISS, nach dem Jahr 2024.
Ukrainischer Präsident fordert weitere Sanktionen gegen Russland
Moskau zeige einmal mehr, dass es sich nicht für das Schicksal der Menschen interessiere, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache am Montagabend. Es lasse sie durch die Blockade ukrainischer Getreideausfuhren hungern sowie unter Kälte, Armut und Besatzung leiden. "Das sind einfach nur verschiedene Formen von Terror."
Die Drosselung der Gaslieferungen sei für Europa eine weitere Bedrohung, sagte Selenskyj. Deshalb müsse der Westen zurückschlagen. Statt an eine Rückgabe der bereits reparierten Gasturbine für Nord Stream 1 zu denken, sollten die Sanktionen gegen Russland weiter verschärft werden.
EU-Staaten sollen Erdgas sparen - aber viele Ausnahmen
Wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, sollen die Mitgliedsstaaten den nationalen Konsum im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. März 2023 freiwillig um 15 Prozent zu senken. Zudem soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei Versorgungsengpässen einen Unionsalarm auszulösen und verbindliche Einsparziele vorzugeben. Die Einigung sei ein "starkes Zeichen gegen alle Spötter und gegen alle Verächter" der EU, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Im Vergleich zum Entwurf der Kommission sind aber deutlich mehr Ausnahmen vorgesehen; die Hürden zur Einführung verbindlicher Sparziele wurden erhöht. Als eine Ausnahme werden Länder wie Zypern, Malta und Irland nicht zum Sparen verpflichtet, solange sie nicht direkt mit dem Gasnetz eines anderen Mitgliedstaats verbunden sind.
Durch die für Deutschland wichtigste Gasleitung Nord Stream 1 sollen ab Mittwoch nur noch 33 Millionen Kubikmeter täglich fließen. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte in Moskau, die EU schade sich mit ihren Sanktionen selbst. Die Strafmaßnahmen erschwerten die notwendige Reparatur von Gasturbinen. "Wenn es diese Einschränkungen nicht gäbe, würden alle Reparatur-, Garantie- und Servicearbeiten in der üblichen, routinierten, operativen Ordnung erfüllt werden."
Die Bundesregierung wirft Russland hingegen politische Spielchen vor und sieht keine technischen Gründe für die Reduzierung der Liefermengen. Eine in Kanada gewartete Turbine wartet in Deutschland auf den Weitertransport nach Russland.
Weitere Schwere Waffen aus Deutschland für die Ukraine
Aus Deutschland seien die zugesagten Mehrfachraketenwerfer vom Typ Mars II und weitere drei Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine übergeben worden, sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) am Dienstag. Tags zuvor hatte Kiew berichtet, die ersten drei Flugabwehrpanzer des Typs Gepard seien aus Deutschland eingetroffen.
Lambrecht sprach von inzwischen fünf gelieferten Gepard-Panzern. Insgesamt werde die Ukraine 30 solcher Systeme von der Industrie mit rund 60 000 Schuss Munition aus der Bundeswehr bekommen. Ebenfalls aus Bundeswehr-Beständen stammen drei Mehrfachraketenwerfer Mars II sowie die dann insgesamt zehn Panzerhaubitzen 2000. Bald beginne die Ausbildung von Ukrainern am Flugabwehrraketensystem Iris-T SLM.
Im ostukrainischen Gebiet Donezk kamen bei Kämpfen zwischen russischen und ukrainischen Truppen mehrere Zivilisten ums Leben. Im von der Ukraine kontrollierten Teil des Gebiets wurden drei Menschen getötet und acht verletzt, wie Militärgouverneur Pawlo Kyrylenko am Dienstag bei Telegram mitteilte. In dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Teil des Gebiets Donezk wurden nach örtlichen Angaben ein Mensch getötet und fünf Menschen verletzt. Die russische Armee griff nach eigenen Angaben eine Stellung ausländischer Freiwilliger in der Ukraine an.
Selenskyj setzte unterdessen Viktor Horenko als neuen Befehlshaber der Sondereinsatzkräfte seiner Armee ein. Der bisherige Kommandeur, Generalmajor Hryhorij Halahan, wurde zum Vize-Chef des für Terrorbekämpfung zuständigen Zentrums im Geheimdienst SBU ernannt. Im früher eng mit Russland verbundenen SBU vermutet Selenskyj viele Kollaborateure; er versucht den Dienst durch loyale Sicherheitsoffiziere zu kontrollieren.
Russland will raus aus ISS
Russland wolle nach 2024 aus der Internationalen Raumstation ISS aussteigen, sagte der neue Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Juri Borissow, bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin. "Natürlich werden wir alle unsere Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern erfüllen, aber die Entscheidung über den Ausstieg aus dieser Station nach 2024 ist gefallen."
Angesichts der politischen Spannungen mit dem Westen stellt Moskau schon seit längerem die Zusammenarbeit auf der ISS in Frage. Es gibt Überlegungen, das russische Modul abzukoppeln und eigenständig weiter zu betreiben. Russland wolle eine eigene Raumfahrtstation bauen, sagte Borissow. Wegen des Kriegs gegen die Ukraine haben westliche Länder Sanktionen auch gegen Russlands Raumfahrtindustrie verhängt.
Altkanzler Schröder in Moskau
Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ist nach Kremlangaben in Moskau. Putins Sprecher Peskow schloss am Dienstag nicht aus, dass Schröder auch mit dem Präsidenten in Kontakt treten könnte. Ehefrau Soyeon Schröder-Kim bestätigte dem "Spiegel", dass ihr Mann sich in Moskau aufhalte. Der Ex-Kanzler selbst, dem seine Nähe zu Putin und zur russischen Gasindustrie vorgeworfen werden, sagte dem Sender RTL: "Ich mache hier ein paar Tage Urlaub. Moskau ist eine schöne Stadt."/fko/DP/nas