(neu: Ungarn)
BRÜSSEL (dpa-AFX) - In Vorbereitung auf einen möglichen Stopp russischer Gaslieferungen haben sich die EU-Staaten auf einen umfangreichen Notfallplan zur sofortigen Drosselung des Verbrauchs verständigt. Die bei einem Sondertreffen der Energieminister getroffene Einigung sieht vor, den nationalen Konsum im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. März 2023 freiwillig um 15 Prozent zu senken. Zudem soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei weitreichenden Versorgungsengpässen einen Unionsalarm auszulösen und verbindliche Einsparziele vorzugeben.
Im Vergleich zu Planungen der EU-Kommission sind dafür allerdings deutlich mehr Ausnahmemöglichkeiten vorgesehen, und auch die Hürden für die Einführung von verbindlichen Einsparzielen wurden erhöht.
EU-Energiekommissarin Kadri Simson warnte deswegen bei einer Pressekonferenz, dass die Einsparziele nach einer ersten Kalkulation nur ausreichen werden, um im Fall eines Stopps russischer Lieferungen sicher durch einen normalen Winter zu kommen. Für einen kalten Winter wird es ihr zufolge bei einem Lieferstopp noch im Juli nicht reichen. Simson sprach von notwendigen Einsparungen von 30 Milliarden Kubikmeter für einen durchschnittlichen Winter und 45 Milliarden Kubikmeter für einen kalten Winter.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wertete den Deal dennoch als großen Erfolg. "Europa lässt sich nicht spalten", sagte der Grünen-Politiker. Er bezeichnete die Einigung als ein "starkes Zeichen gegen alle Spötter und gegen alle Verächter" der EU.
Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold (Grüne) betonte: "Wenn höhere Einsparungen notwendig werden, werden wir erneut sprechen." Ihm zufolge war nur Ungarn gegen den Notfallplan. Giegold betonte: "Mit der Gaseinspar-Verordnung helfen Staaten, die sich nicht von Putins Russland abhängig gemacht haben, den Mitgliedsstaaten, die jahrelang blind auf billiges fossiles Gas gesetzt haben. Darunter Deutschland. Danke an unsere Nachbarn!"
Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto sagte nach Angaben eines Regierungssprechers: "Für Ungarn ist diese Entscheidung völlig inakzeptabel, und ihre Umsetzung kommt nicht in Frage." Ungarische Interessen würden igoriert.
Gas sparen - erst freiwillig, dann verpflichtend
Der nun vereinbarte Plan setzt zunächst beim 15-Prozent-Ziel auf Freiwilligkeit. Wie es erreicht werden soll, bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Vergleichszeitraum soll der Durchschnittswert des Verbrauchs in der Periode August bis Ende März der vergangenen fünf Jahre sein.
Erst im nächsten Schritt könnte es dann verpflichtende Einsparziele geben, die in der Regel bei 15 Prozent liegen sollen. Im Vergleich zum Vorschlag der EU-Kommission wurden die Hürden für die Einführung der Einsparvorgaben allerdings erhöht. Sie sollen nur noch vom Rat der Mitgliedstaaten und nicht von der EU-Kommission durchgesetzt werden können. Dafür bräuchte es die Zustimmung von mindestens 15 EU-Ländern, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union ausmachen. Auch sind deutlich mehr Ausnahmen vom Gassparen möglich.
Sonderregeln für Inselstaaten und Lebensmittelproduktion
Nicht zum Gassparen verpflichtet werden sollen unter anderem Inselstaaten wie Zypern, Malta und Irland, die ohnehin nicht mit dem zentraleuropäischen Gasnetz verbunden sind. Bei anderen Ländern sollen zum Beispiel Anstrengungen zur Einspeicherung von Gas, eine drohende Stromkrise und der Verbrauch von Gas als Rohstoff etwa zur Erzeugung von Düngemitteln für die Lebensmittelproduktion die verpflichtende Einsparmenge reduzieren können.
Habeck nannte die Ausnahmen "individuell nachvollziehbar". Ihm zufolge sind die nun vereinbarten Reduktionen trotzdem ungefähr in dem Rahmen, "was man braucht, um den Ausfall von russischem Gas zu kompensieren". Vieles hänge jedoch davon ab, wie der Beschluss konkret von den EU-Staaten umgesetzt wird.
Habeck sieht Deutschland beim Gassparen auf gutem Weg
Deutschland selbst ist nach Habecks Angaben beim Gassparen auf einem guten Weg. Man habe bereits "enorme Anstrengungen und enorme Erfolge erzielt" und werde weitere realisieren können, sagte er. Demnach liegt Deutschland bei 14 oder 15 Prozent Einsparungen - allerdings im Vergleich zum Vorjahr und nicht temperaturbereinigt. Habeck machte deutlich, dass Deutschland die 15 Prozent noch übertreffen sollte. "In der Tat, für einige Länder - und ich würde für Deutschland auch sagen - sollten wir versuchen, besser zu werden."
Zugleich widersprach der Wirtschaftsminister Darstellungen, wonach nur Deutschland besonders abhängig von russischem Gas ist. "Das ist ein mittelosteuropäisches Problem", sagte er. "Man hat sich zu lange zu blind auf das günstige, billige, ewig fließende russische Gas verlassen."
Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums lag der Anteil russischer Gaslieferungen für Deutschland vor Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine im Mittel bei mehr als der Hälfte. Ende Juni lag der Wert zwar nur noch bei 26 Prozent, allerdings war ein Grund dafür auch, dass Gazprom
Habeck: Nicht mehr überrascht sein, dass Putin den Gashahn zudreht
Wie groß Putins Hebel ist, machte er gerade erneut deutlich. Am Montag kündigte der russische Gazprom-Konzern an, die Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 ab Mittwochmorgen erneut deutlich zu drosseln. Habeck bezeichnete dies als klare Strategie aus dem Kreml. "Ich glaube, dass Gazprom selber, also der Konzern, gar nicht mehr Herr seiner eigenen Entscheidungen ist. Die Farce um diese kanadische Turbine spricht da eine eindeutige Sprache", sagte er. "Es wird alles politisiert, und Absprachen werden nicht mehr eingehalten."
Man müsse sich innerlich darauf einstellen, dass weniger oder irgendwann gar kein russisches Gas komme. "Sollte es anders kommen, werden wir überrascht sein. Aber wir sollten nicht mehr überrascht sein, dass Putin den Gashahn zudreht."
Der formelle Beschluss des Notfallplans folgt noch
Formell beschlossen ist der Gasnotfallplan nach dem Treffen der Energieminister noch nicht. Dazu ist noch ein schriftliches Verfahren nötig, das nach Angaben der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft innerhalb der kommenden Tage abgeschlossen werden soll. Anders als von der EU-Kommission vorgesehen, soll der Plan nicht für zwei Jahre, sondern zunächst nur für ein Jahr gelten./dmy/DP/nas