ROUNDUP/Nachrichtendienste zu Russland: bestenfalls 'eisiger Friede'
BERLIN (dpa-AFX) - Die deutschen Nachrichtendienste warnen vor einer akuten Bedrohung durch Russland und einer jederzeit möglichen Eskalation in den Beziehungen. "Wir dürfen uns nicht zurücklehnen in der Annahme, ein möglicher russischer Angriff käme frühestens 2029. Wir stehen schon heute im Feuer", warnte der Präsident der Behörde, Martin Jäger, vor Abgeordneten im Bundestag.
"Zielfläche Nummer Eins"
Die Grenzen zwischen Frieden und Krieg würden zunehmend verwischen, sagte Jäger. "In Europa herrscht bestenfalls ein eisiger Friede, der punktuell jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen kann. Wir müssen uns auf weitere Lageverschärfungen vorbereiten."
Verfassungsschutz-Präsident Sinan Selen beschrieb Russland als "zweifellos aggressiv, offensiv und zunehmend eskalativ". Das Land gelte als "Hauptverursacher für die Vorbereitung und Umsetzung von Sabotageakten in Deutschland und weiteren europäischen Staaten".
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) warnte zuletzt mehrfach, dass Russland bis 2029 in der Lage sein könnte, einen militärischen Schlag gegen Nato-Gebiet zu führen.
Selen bezeichnete Deutschland als "ein primäres Ziel für russische Aktivitäten in Europa". Jäger sagte: "Deutschland ist für Russland im Augenblick ganz klar erkennbar Zielfläche Nummer Eins in Europa." Das liege an der Unterstützung der Ukraine, aber auch an der Rolle als größter EU-Mitgliedsstaat.
Was China und der Iran wollen
Russland ist nicht der einzige autoritäre Staat, auf den die deutschen Nachrichtendienste blicken - wenn auch der wichtigste. China hat es nach Angaben Jägers vor allem auf Erkenntnisse in Technologie und Wirtschaft und auf eigene Staatsbürger in Deutschland abgesehen. Gezielte Einflussnahme auf politische Entwicklungen, wie Russland sie nehmen will, beobachte man weniger.
Zur Rolle des Iran in Deutschland sagte er: "Auch hier verzeichnen wir erhebliche Aktivitäten." Die zielten aber stark auf iranische Oppositionelle hierzulande ab.
Selbst bei Frieden in Nahost: Konfliktpotenzial nicht aus der Welt
Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel vor rund zwei Jahren, der den Gaza-Krieg auslöste, hat auch in Deutschland Folgen. "Seitdem verschafft der Konflikt in Nahost Extremisten aus allen Spektren in Deutschland einen giftigen Nährboden für antisemitische Verschwörungstheorien und Feindseligkeiten, befeuert Aufrufe zur Gewalt, die Vernetzung extremistischer Gruppen und hat bereits zu Anschlagsplänen gegen jüdische Einrichtungen geführt", sagte Selen.
Auch mit dem Friedensprozess in Nahost sei dieses Konfliktpotenzial nicht aus der Welt, mahnte Selen. "Mit der Situation in Gaza ist die Situation in Deutschland nicht beendet. Das heißt also, auch ein Friedensprozess wird nicht dazu führen, dass die Gefährdungslage abnimmt." Es gebe eine "Verstetigung" extremistischer Kreise, die themenunabhängig weitermachten und sich über das eigene Milieu hinaus vernetzten.
Jäger erklärte, wenn die Hamas wie vorgesehen nicht an einer Übergangsverwaltung in Gaza beteiligt werde, gebe es ein "sehr reales Risiko", dass sie außerhalb Gazas ausgreife. Dies werde den arabischen Raum betreffen, "aber ganz sicher auch Europa". Selen sagte, es gebe hier schon länger einen Rückzugsraum für die Hamas, aber zunehmend betrachte die Organisation Deutschland und Europa auch als Operationsraum, also einen Ort, wo sie auch Aktionen durchführen will.
Algorithmen ziehen Nutzer in Extremismus-Tunnel
Extremisten aller Art nutzten geschickt soziale Medien für sich, berichteten die Nachrichtendienst-Chefs. Gerade junge oder verunsicherte Menschen würden tief in extremistische Inhalte hineingezogen, zum Teil sogar 12- bis 14-Jährige, sagte Selen. Am Ende würden Menschen "mit diesen Narrativen geradezu beschossen", sagte Selen. "Das heißt also, es gibt gar keine andere Erzählung neben der, die sie konsumieren."
Die Algorithmen sorgten dafür, dass Nutzer ständig ähnliche Inhalte sähen. Radikalisierungsprozesse spielten sich in wenigen Wochen bis Monaten ab - vom Erstkontakt mit extremistischen Inhalten bis zum Tatentschluss "Kaufe dir ein Messer und gehe in eine Einkaufsstraße und töte Ungläubige."
Das im Blick zu behalten sei sehr aufwendig, berichtete Selen. Zudem seien die Betreiber der Plattformen nicht immer kooperativ, wenn es darum gehe, reale Menschen hinter Nutzerprofilen zu identifizieren.
Kampagne "Kein Wegwerf-Agent werden"
Am Anfang von Radikalisierungsprozessen könne man Menschen noch erreichen, beschrieb Selen, der auf die gemeinsame Kampagne mit dem Bundeskriminalamt "Kein Wegwerf-Agent werden" verwies. Wenn sie von "Wegwerf-Agenten" sprechen, meinen die deutschen Nachrichtendienste Menschen, die von meist russischen Geheimdiensten online rekrutiert werden, damit sie für geringe Geldbeträge hier Ausspäh-Aktionen, Sachbeschädigungen oder Brandstiftungen begehen.
Die Gegen-Kampagne versuche, beispielsweise Menschen zu erreichen, die eine kritische Haltung zum Ukraine-Konflikt hätten, sagte Selen. Sie sollten sensibilisiert werden, damit sie hellhörig werden, was mögliche Versuche der Kontaktaufnahme durch Russland etwa auf Telegram angeht. Erste Ergebnisse seien vielversprechend. "Derartige Kampagnen werden wir in Zukunft häufiger zur Anwendung bringen."
Beim Umgang mit Desinformations-Kampagnen stünde man allerdings vor einem Dilemma, berichtete Selen. Einerseits wolle man Versuche der Einflussnahme transparent machen, andererseits drohe man damit die Inhalte erst recht weiterzuverbreiten.
Gefahren durch KI und Deep Fakes
Künstliche Intelligenz kann die Brisanz von Angriffen verschärfen, zum Beispiel durch sogenannte Deep Fakes - also sehr überzeugende Fälschungen - oder automatisierte Cyberangriffe, wie die Präsidentin des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), Martina Rosenberg, sagte. So könnte zum Beispiel gefälschte Anweisungen an militärische Einheiten verbreitet werden. Jäger sagte voraus: "Terrorgruppen wie Einzeltäter werden absehbar versuchen, Drohnen und Künstliche Intelligenz für sich zu nutzen."
Bei der Datenanalyse wollen die drei Nachrichtendienste des Bundes selbst auch verstärkt auf Künstliche Intelligenz setzen. Man wisse gar nicht, welche "Goldnuggets" sich in den eigenen Daten befänden, wenn man sie nicht durchsuchen könne, sagte Jäger.
Befreundete Nachrichtendienste dürfen mehr
Im Vergleich zu Geheimdiensten, mit denen man zusammenarbeite, sei man im Nachteil, sagte Jäger. Europäische Partner seien da "flexibler und beweglicher". Man erhalte viele Hinweise von befreundeten Diensten - aber unklar sei, ob die deutschen Dienste nicht selbst auch viel mehr Hinweise geben könnten, wenn sie mehr Daten durchforsten dürften und weniger löschen müssten.
Er wolle auch, dass die Mitarbeiter beim Bundesnachrichtendienst mutiger würden, sagte Jäger. Man habe "ein riesiges Interesse daran", die Zusammenarbeit mit europäischen und internationalen Partnern zu intensivieren. "Das ist aber nicht ein diplomatischer Sitzkreis, sondern das ist ein hartes Geschäft, was auf Gegenseitigkeit beruht. Sie bekommen Informationen, weil Sie Informationen weitergeben können. Das heißt, wir brauchen mehr wertige Informationen, die wir in diesen Geschäftskreislauf sozusagen einführen können."/hrz/DP/stw