- von Christian Krämer und Markus Wacket und Alexander Ratz
Berlin (Reuters) - Das Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum längeren Betrieb der drei deutschen Atomkraftwerke zeigt Wirkung.
Nicht einmal einen Tag danach brachten die Grünen-geführten Ministerien für Wirtschaft und Umwelt einen Gesetzentwurf auf den Weg. Bis Ende November soll das Parlament zugestimmt haben. Die Spitzen der Grünen-Partei als auch der Bundestagsfraktion kündigten an, trotz Kritik die Scholz-Linie mitzutragen. Die Opposition sieht einen Machtverfall der Ampel-Koalition.
Scholz sagte in Berlin, der Atomausstieg komme. Neue Brennstäbe würden nicht mehr beschafft. "Am 15. April ist mit den Atomkraftwerken in Deutschland Schluss." Mit der Inbetriebnahme der geplanten LNG-Terminals für Flüssiggas sowie der Nutzung von Kohle werde die Versorgungssicherheit auch nach dem Winter gewährleistet sein. Bis Mitte April werde jetzt nicht mehr geprüft, sondern so viel produziert, wie die drei Meiler hergeben würden - "direkt und ohne Umwege".
In dem Reuters vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, insgesamt könnten die drei Meiler Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland im Jahr 2023 rund 5,4 Terawattstunden Strom erzeugen. Das entspricht in etwa dem Stromverbrauch Berlins in einem halben Jahr. Die Ministerien sollen bis Mittwoch den Entwurf zum Atomgesetz billigen. Isar 2 muss dem Papier zufolge im Oktober für eine Reparatur für eine Woche heruntergefahren werden. Neckarwestheim und Emsland müssen Anfang 2022 jeweils rund zwei Wochen lang aussetzen für eine neue Konfiguration des Reaktorkerns. Die Brennelemente von Isar 2 würden dann wohl Anfang März aufgebraucht sein, die anderen könnten bis 15. April laufen.
GRÜNE WOLLEN TROTZ BAUCHSCHMERZEN MITZIEHEN
Für die Grünen kündigte Co-Parteichefin Ricarda Lang an, hinter dem Kompromiss zu stehen. In der Sache bekräftigte sie aber die Kritik, dass das AKW im Emsland für die Netzstabilität nicht gebraucht werde. "Der Weiterbetrieb macht deshalb fachlich wenig Sinn." Dem widersprach FDP-Chef Christian Lindner in einem "Welt"-Interview: "Emsland wird bis April 1,7 Terawatt zusätzlichen Strom produzieren. Das sichert nicht nur die Netzstabilität, sondern ist auch ein ganz klares Preissignal."
Scholz hatte den Streit von Grünen und FDP am Montagabend abrupt beendet. Er nutzte dabei erstmals seine Richtlinienkompetenz und ordnete an, die gesetzliche Grundlage für den Weiterbetrieb der drei Atommeiler bis maximal zum 15. April 2023 zu schaffen.
Britta Haßelmann, die Co-Chefin der Grünen-Bundestagsfraktion, sagte, sie rechne intern mit intensiven Beratungen und kritischen Stimmen. Am Ende werde es aber wohl eine Mehrheit für den Scholz-Kurs geben. Für die Grünen sei wichtig, dass der Atomausstieg verbindlich komme und unumkehrbar sei. Neue Brennelemente würden nicht mehr angeschafft. "Das ist gut und wichtig."
Der einflussreiche Industrieverband BDI nannte die Scholz-Entscheidung "richtig und überfällig". Technisch sei die Verlängerung der Laufzeit möglich. "In der aktuellen Lage zählt jede Kilowattstunde. Pragmatismus statt Ideologie ist das Gebot der Stunde, um Deutschland sicher ohne gesellschaftliche Verwerfungen und schwere wirtschaftlich Schäden durch diese Energiekrise zu bringen." Ob ein Weiterlaufen der Kernkraftwerke über den April hinaus notwendig werde, müsse abhängig der Versorgungs- und Preislage im Frühjahr 2023 offen und sachlich diskutiert werden.
Die Mittelstands- und Wirtschaftsunion sprach von einem faulen Kompromiss, der der Ampel helfe, nicht aber dem Land. "Erforderlich wäre der Weiterbetrieb aller drei Kernkraftwerke bis mindestens Ende 2024. Denn der Strommangel wird im kommenden Winter ebenso so groß sein wie in diesem Winter." Die Gefahr eines Blackouts sei nicht gebannt.
AMPEL IM STRESSTEST
Der Zwist innerhalb der Ampel hat Jürgen Trittin zufolge Spuren in der Koalition hinterlassen. "Wenn getroffene Verabredungen, zum wiederholten Male im übrigen, seitens der FDP nicht eingehalten werden, der Bruch dieser Vereinbarungen dann vom Kanzler per Machtwort versucht wird durchzusetzen, dann sind die Grundlagen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in dieser Koalition einem extremen Stresstest ausgesetzt", sagte der Grünen-Abgeordnete und frühere Umweltminister im Deutschlandfunk.
Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz sagte, die Koalition sei voraussichtlich nicht am Ende. Scholz habe aber seinen vorletzten Trumpf ausgespielt mit seinem Machtwort. Nun würde ihm nur noch eine Vertrauensabstimmung im Parlament bleiben. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nahm Scholz dagegen in Schutz. Er werde die Richtlinienkompetenz nicht inflationär nutzen. In bestimmtem Momenten müsse der Kanzler aber solche Entscheidungen treffen.
(Redigiert von Hans Busemann; Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)