Reuters

Nahles mit 66 Prozent zur ersten SPD-Vorsitzenden gewählt

22.04.2018
um 15:31 Uhr

- von Thorsten Severin und Holger Hansen

Wiesbaden (Reuters) - Als erste Frau an der Spitze der SPD will Andrea Nahles die Partei aus ihrer historischen Krise führen.

Die 47-jährige Fraktionsvorsitzende erhielt auf dem Sonderparteitag am Sonntag in Wiesbaden mit 66,35 Prozent jedoch das zweitschlechteste Ergebnis in der SPD-Geschichte - nach der Wahl von Oskar Lafontaine 1995. Ihre Gegenkandidatin Simone Lange bekam 27,6 Prozent. "Gemeinsam sind wir stark. Wir packen das. Das ist mein Versprechen", sagte Nahles unter dem Applaus der rund 600 Delegierten. In ihrer Rede warb sie dafür, stärker auf das Prinzip der Solidarität zu setzen. Zugleich räumte sie Fehler im Bundestagswahlkampf ein. "Wir wollen keinen Stein auf dem anderen lassen, wenn es uns weiterbringt", kündigte die Rheinland-Pfälzerin an. Sie warnte ihre Partei zudem vor rückwärtsgewandten Debatten.

Es war das erste Mal seit fast 23 Jahren, dass sich zwei Personen zur Wahl um den Parteivorsitz stellten. Damals erhielt Lafontaine bei der Kandidatur gegen Rudolf Scharping mit 62,6 Prozent das schlechteste Ergebnis. Die Flensburger Oberbürgermeisterin Lange dürfte Stimmen von Gegnern einer großen Koalition errungen haben. Die SPD hatte sich nur gegen große innerparteiliche Widerstände zu einem weiteren Bündnis mit der Union durchgerungen.

Nahles lobte den Koalitionsvertrag und sprach von einer guten Regierungsmannschaft. Der Partei sagte sie eine umfassende Erneuerung zu, für die der Parteitag den Startschuss geben soll. "Man kann eine Partei in der Regierung erneuern. Diesen Beweis will ich ab morgen antreten." Ihre Motivation zur Übernahme des Parteivorsitzes sei dieselbe wie vor 30 Jahren, als sie in ihrem rheinland-pfälzischen Heimatort Weiler einen SPD-Ortsverein gegründet habe. "Ich glaube, dass man mit demokratischen Mitteln die Welt für jeden Menschen besser machen kann." Seit Franz Müntefering in den Jahren 2004 und 2005 lagen Partei- und Fraktionsvorsitz bei der SPD nicht mehr in einer Hand. Nahles ist damit zugleich Koalitionspartnerin und Gegenspielerin von Kanzlerin Angela Merkel.

Herausforderin Lange hatte für einen echten Neuanfang mit ihr an der Spitze geworben. Zugleich forderte sie eine Abkehr von der Sozialreform Agenda 2010. Mit dieser habe die SPD in Kauf genommen, dass Millionen Menschen in Armut lebten, obwohl sie eine Arbeit hätten. Dafür wolle sie sich bei den Betroffenen entschuldigen.

Nahles räumte ein, die SPD habe im Wahlkampf mehr Gerechtigkeit gefordert, aber nicht gesagt, wie sie diese erreichen wolle. "Das Ziel zu benennen, aber den Weg im Vagen zu lassen, führt zwangsläufig dazu, dass uns die Menschen nicht vertrauen können und nicht folgen." Die SPD wolle einen solidarischen Rahmen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik schaffen. Neue Regeln müssten verhindern, dass Gewinne in Steueroasen gebucht würden. Nahles kritisierte insbesondere Internetplattformen, die keine soziale Verantwortung übernähmen und mit den Daten von Verbrauchern auch noch politische Geschäfte machten.

Die Fraktionschefin warnte zugleich mit Blick auf die geplante "solidarische Arbeitsgesellschaft" vor vorschnellen Schlüssen. "Wenn wir sagen, wir schaffen Hartz IV ab oder wickeln die Agenda 2010 ab, haben wir noch keine einzige Frage beantwortet." Zugleich mahnte sie: "Lasst uns die Debatte mit dem Blick auf das Jahr 2020 führen, nicht mit Blick auf das Jahr 2010."

SCHOLZ: SPD WIRD WIEDER STARK WERDEN

In den vergangenen Woche wurde die Partei kommissarisch von Olaf Scholz geführt, der inzwischen Bundesfinanzminister ist. Er betonte, es gehe für die SPD um Konzepte für die das kommende Jahrzehnt. Es sei ein historischer Moment, wenn die SPD in ihrer fast 155-jährigen Geschichte erstmals von einer Frau geführt werde. Die SPD werde wieder stark, zeigte sich Scholz überzeugt. Zurzeit liegt sie in Umfragen mit 17 bis 19 Prozent noch hinter ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl. Scholz hatte den Vorsitz vorübergehend von Martin Schulz übernommen, der nach den Koalitionsverhandlungen im Februar seinen Rücktritt erklärt hatte.

Für Nahles sind mäßige Wahlergebnisse nichts Ungewöhnliches. Bei ihren drei Kandidaturen als Generalsekretärin in den Jahren 2009 bis 2013 erzielte sie Resultate zwischen rund 67 und 73 Prozent. In einer Umfrage von Infratest dimap vor wenigen Tagen traute ihr jeder Dritte zu, die Sozialdemokraten wieder zu stärken. Von den SPD-Anhängern glaubte die Hälfte, dass es Nahles schafft, die Partei aus der Krise zu führen.

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