- von Andreas Rinke und Alexander Ratz
Berlin (Reuters) - Angesichts der stark steigenden Zahl an Corona-Neuinfektionen und -Intensivpatienten haben Gesundheitsminister Jens Spahn und der RKI-Präsident Lothar Wieler an die 16 Bundesländer eindringlich appelliert, den Corona-Kurs sofort zu verschärfen.
Die Länder müssten nicht erst auf die Bundes-"Notbremse" kommende Woche warten, es müsse sofort gehandelt werden, sagte Spahn am Donnerstag in Berlin.
Mit Hinweis auf zahlreiche Infektionen bei Schülern und Eltern kritisierte er, dass die im geplanten Bundesgesetz vorgesehene Schulschließung ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 viel zu hoch sei. Werde die Entwicklung nicht gestoppt, sei schon jetzt absehbar, dass das Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit komme. "Jeder Tag zählt gerade in dieser schwierigen Lage", sagte der Minister.
"Das Virus lässt sich nicht wegtesten", sagte der Präsident des RKI mit Blick auf die Debatte, Öffnungsschritte mit vermehrtem Testen abzusichern. "Jetzt erwarte ich, dass Entscheidungsträger uns allen helfen, die dritte Welle zu brechen."
Der Corona-Koordinator an der Berliner Charité, Steffen Weber-Carstens, warnte vor einem zunehmenden Personalmangel auf deutschen Intensivstationen, die am Mittwoch bereits 4653 Corona-Intensivpatienten versorgt hätten. In vielen Teilen Deutschlands seien nur noch zehn Prozent der Intensivbetten verfügbar, Thüringen habe am Mittwoch bereits andere Bundesländer gebeten, Corona-Patienten zu übernehmen.
Hintergrund der Warnungen ist, dass das RKI am Donnerstag binnen 24 Stunden 29.426 Neuinfektionen meldete, den höchsten Anstieg seit dem 8. Januar. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 160,1 (Vortag: 153,2). Der Wert gibt an, wie viele Menschen je 100.000 Einwohner sich in den vergangenen sieben Tagen mit dem Coronavirus angesteckt haben. 293 Menschen sind binnen 24 Stunden in Verbindung mit dem Virus gestorben. RKI-Chef Wieler verwies darauf, dass die Zahl der täglich gemeldeten Todesfälle derzeit nicht mehr sinke.
SPAHN RECHNET MIT KLAGEN GEGEN AUSGANGSSPERREN
Um die Infektionszahlen in den Griff zu bekommen, hat die Bundesregierung eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes vorgelegt, die den Spielraum der 16 Landesregierungen eingrenzt. Ab einer Inzidenz von 100 müssen Landkreise und Länder bestimmte Corona-Maßnahmen wie Kontakt- oder Ausgangsbeschränkungen umsetzen. Gesundheitsminister Spahn geht trotz Kritik, unter anderem von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), davon aus, dass eine Ausgangssperre in der aktuellen Lage nicht gegen die Verfassung verstößt. Dies hätten Innen- und Justizministerium geprüft und bestätigt, sagte er. Er rechnet dennoch damit, dass die bundesweit angestrebte "Notbremse" vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Der Gesetzentwurf soll in der kommenden Woche vom Bundestag beschlossen werden. Dann soll der Bundesrat zustimmen.
Der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, befürchtet einen Gesichtsverlust für das Parlament. "Wenn das jetzt auch wieder scheitert - und im Moment deutet vieles darauf hin, dass die Maßnahmen nicht ausreichen werden -, dann sind nicht nur die Ministerpräsidentenkonferenzen desavouiert, sondern auch die Mehrheit im Deutschen Bundestag", sagte Hofreiter den Sendern RTL und ntv.
SPAHN- IMPFVERSPRECHEN IM SOMMER STEHT DANK BIONTECH
Spahn erneuerte sein Versprechen, allen Menschen in Deutschland bis zum Sommer ein Impfangebot machen zu können. Dank erneut aufgestockter Lieferungen würden im zweiten Quartal 50 der geplanten 80 Millionen Impfdosen allein von BioNTech kommen, wodurch Schwierigkeiten bei anderen Impfstoffen ausgeglichen werden könnten. Einer Notfallzulassung des Impfstoffs von Curevac erteilte der Minister eine Absage.
Für die kommende Woche haben laut Spahn 50.000 Arztpraxen Bedarf an Impfstoffen angemeldet, 5.000 mehr als in dieser und 15.000 mehr als in der vergangenen Woche. Deren Bedarf an den Impfstoffen von BioNTech und AstraZeneca sei in etwa gleich hoch. Ausgeliefert werden sollen an die Ärzte kommende Woche gut eine Million Impfdosen, das Gros der Präparate geht weiter an die Impfzentren.